Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 3: Annnahme als Kriegsfreiwilliger in Kassel

[235-236]

Tags darauf [2.8.1914] gingen wir beide gemeinsam zum Rathause, um uns ordnungsgemäß in die Stammrolle eintragen zu lassen. Unterwegs trafen wir noch jemanden, dem bang das Herz ums Liebste schlug. Und Stärke durfte ich geben und mir ward ein Wort so schön und edel wie selten vorher. — Dicht stand vor dem Rathaustor der Drang derer, die sich den Satzungen nach zu melden hatten. Geistige Elite von den Schulen und Hörsälen war die Fülle. Ein Stoßen noch und Schieben bis zum Tisch „Jahrgang 1893", und der Beamte hatte mich umständlich aufgenommen.

Draußen aber auf allen Straßen schlug Leben, und Leben atmete jedermann, der Kräfte fühlte und Kräfte regte, daß die Sonne selbst droben am Firmament leuchtender niederglänzte. Am regsten war's ringsum in den Kasernen, der Kaserne der 83 er. Wie sang's und jubelte es aus allen Stuben dort und Fenstern, ein Grüßen laut und Abschiednehmen ernster Art von Lieben, die hereingekommen. Plötzlich: „Schtingdara und bum!" und aus dem Hof mit klingendem Spiel zieht die Fahnenkompagnie, die heiligen, sieggekrönten Zeichen einzuholen. Vorbei an der Wohnung des Obersten, Grafen von Moltke1, der ernst und feierlich herabgrüßt, zum kommandierenden General. Schon wartete der ihrer und gab die Fahnen heraus, daß sie zu neuem Ruhm und Sieg getragen würden. „Auf Wiedersehen, Kinder!" — Heih, wie die Trommeln gewirbelt haben und der Marsch geschlagen ist: Im Schritt und Tritt und Tritt und Schritt bin ich mit denen marschiert und habe sie beneidet, daß heute noch sie hinausziehen konnten. —

Und dann am Nachmittag, als das Regiment ausrückte! Wer kann das schildern, was da in unsern Seelen gelebt hat: Lust und Schmerz und Jubel rang sich durch zu lautem Lied und Ruf. Wie sie dahinzogen ... und wer kehrt wieder?... Wen gab es, dem die Stunde nicht bis tief ins Innere gedrungen wäre; hat doch mein Bruder August, der als Sextaner mit mir im dichten Schwarm der Begleiter wacker durchmarschierte, dort am Bahnhof, als wir nicht weiter folgen konnten, so bitterlich geweint wie kaum ein anderer....

Tag für Tag ein gleiches Bild und jeden Tag gleich herrlich wie am ersten, des Landes Kraft stellte sich ein. Wie oft stand ich mit Dir, lieber Vater, morgens auf dem Balkon und wir sahen sie in Reih und Glied die Wilhelmshöher Allee herabkommen, die von den ersten Zügen hereingebracht waren, daß sie des Kaisers grauen Rock anzögen. Die kamen herein, jene zogen aus, und so ging es Tag für Tag und zu allen Stunden war des Jubels viel aus den Bahnhöfen der durchfahrenden Truppen.

Endlich der fünfte August! [5.8.1914] Das Regiment 83 stellt die ersten Freiwilligen ein. Du hast mich begleitet bis vors Kasernentor und kaum bist Du zwanzig Schritt weiter gewandelt, lieber Vater, als ich schon als einer der Letzten im geschlossenen Zug an Dir vorbeimarschiert bin bis tief ins Innere der Stadt, ungewiß, wohin, aber freudig, daß ich's kaum ermessen konnte. Wie ganz anders diese meine Freude, daß ich Soldat werden durfte, im Gegensatz zu einer andern, die ich damals sah, daß jemand nicht des Königs Rock anzuziehen brauchte! —

Das war unser erster militärischer Dienst, daß wir aus dem Zeughaus Waffen herbeischleppten in die Kaserne. Wie stolz bin ich gewesen, als ich zum ersten Male die kühle Wehr ergreifen durfte [S. 236] und sie den Kameraden, die sie seit langem führen konnten, zubrachte. —

Den gleichen Tag noch wurde ich ärztlich untersucht und geimpft und als zum Heeresdienst tauglich angenommen. Früh 6 Uhr [6. 8.1914] standen wir Kriegsfreiwilligen in großer Zahl auf dem Hofe der 83 er-Kaserne und warteten der Dinge, die kommen sollten.

O, was haben wir warten müssen und stillstehn lernen. Immer wieder auf morgen entlassen! Endlich kam der Tag, wo wir formiert wurden und ich zur zweiten Kompagnie des ersten Rekrutendepots kam. Und dann gab man uns auch Uniformen! Frag nicht, wie die aussahen; aber wir wurden so Tag zu Tag militärischer eingekleidet. Und dann ging's ans Exerzieren! Ein zwei, links um usw. und gar wohl langsamer Schritt — und, die uns lehrten, alte gründliche Herren: wollen Sie vielleicht einmal — — Ei, ei, war das ein Ton! — — — Dann wurde es schon besser, als wir die Anfänge des Felddienstes erfuhren und wohl einen Marsch machten zum Saurasen oder zur Dönche2. Sprung auf! marsch-marsch! — Stellung! Hinlegen! Aber kein Gewehr kam in unsere Hand! — — —


  1. Wohl Generaloberst Helmuth Graf von Moltke (1848-1916), der bis zum 14.9.1914 Chef des Generalstabs war.
  2. Ein Truppenübungsgelände südwestlich der Kasseler Innenstadt.

Persons: Weidemann, Wilhelm · Moltke, Helmuth Graf von, Generaloberst
Places: Kassel
Keywords: Kriegsfreiwillige · Kasernen · Infanterie-Regiment „von Wittich“ (3. Kurhessisches) Nr. 83 · Infanterie-Regiment Nr. 83 · Fahnenkompanien · Feldgrau · Waffen · Rekrutendepots · Exerzieren · Oberste Heeresleitung · Generalstab
Recommended Citation: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 3: Annnahme als Kriegsfreiwilliger in Kassel“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/138-3> (aufgerufen am 26.04.2024)