Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 2: Rückkehr nach Kassel, Meldung als Kriegsfreiwilliger

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Waffen klirrten laut und lauter. Aber Jugend ist sorglos. So war auch ich: sie reisten zur Heimat, die Kameraden; und die nach Österreich gehörten, eilten schon zu den Fahnen, freudig und echt gesonnen wie mein Bekannter K., obwohl sein Blut tschechisch war.

Ich aber blieb; denn ich wollte das Semester, das das letzte von fünf in Leipzig verbrachten war, bis zum Ende durchhalten. Da erhielt ich von Dir, lieber Vater, jene Karte mit den wenigen eindringlichen Sätzen, daß ich unverzüglich zur Heimat aufbrach. Und ich kam in der Heimat an und grüßte Kassel, meine liebe Hessenhauptstadt, und fand Euch und besonders Dich, liebe gute Mutter, in Aufregung und Freude wieder, daß ich noch rechtzeitig gekommen. Rechtzeitig! Die Spannung wuchs und rang nach Entladung, und lastete schwer auf aller Gemütern. In qualvoller Unruhe ging alles um, und der Jubel von gestern war nicht mehr. Wie zu jeder Stunde bin ich mit Dir, Vater, zur Stadt gegangen, zu den Redaktionen der Zeitungen, und wir sahen, wie alles sich schrittweise entwickelte und konnten's schier kaum begreifen, daß wir, daß unser Herrscher so zögerte beim Spruch des letzten Wortes. O wie waren [S. 235] wir in diesen Zweifeln soviel kleiner als unser Kaiser Wilhelm, der Mann und fromm-starke Held.

Erster August [1.8.1914], Spätnachmittag: Ich ging gerade über die Königstraße nahe am Königsplatz. Vor der Hauptpost dichter Menschenauflauf. Alles eilt herzu; ich unter ihnen. Da schlagen sie's an die Mauerpfeiler und wir lesen's: „Deutschland macht mobil!" — Deutschland mobil! Jetzt hat alles Bangen und Quälen ein Ende und frei wird die Brust und singt inbrünstig und feierlich den deutschen Choral. Deutschland mobil! —

Wie hat mir das Auge geleuchtet gleich tausend und abertausend andern, wie mir das Herz gepocht, als ich heimgeeilt1 durch die Straßen voll freudig und doch tief innerlich gestimmter Menschen. Wann mußt du fort? — „Ich morgen und übermorgen und am fünften Tag und sechsten!" Und Du ? und Du ?

„'s geht los!" bin ich ins Zimmer getreten, wo Du so ernst und feierlich, mein Vater, und Du in Tränen, meine Mutter: es ist Krieg!

Draußen aber läuteten die Glocken von Turm zu Turm und klangen und sangen durchs deutsche Land und riefen zum Dienste, zur Feier der Ehre und Bitte an den, der alles lenkt im Reiche der Menschen und Welten. Und Alldeutschland betete tief und heiß wie nie zuvor. — — —

Noch denselben Abend saß ich in ernstem Gespräch im Kreise der Familie B. und sprach mit meinem Freund A., dem Musikus, daß wir uns morgen zur Stammrolle anmelden wollten und daß wir freiwillig eintreten würden und welchen Truppenteil wir wählten. So gern wir zusammengeblieben wären, diesmal gingen unsere Ansichten scharf auseinander: er entschied sich für den Train, ich wählte aus vollster Neigung die Infanterie.


  1. Die Eltern Wilhelm Weidemanns wohnten in der Diakonissenstraße 10 in Kassel.

Persons: Weidemann, Wilhelm · Wilhelm II., Deutsches Reich, Kaiser
Places: Leipzig · Kassel
Keywords: Studenten · Julikrise · Zeitungen · Mobilmachung · Alldeutschland · Kriegsfreiwillige · Infanterie
Recommended Citation: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 2: Rückkehr nach Kassel, Meldung als Kriegsfreiwilliger“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/138-2> (aufgerufen am 20.04.2024)