Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Christian Eisenberg, Zwölf Feld-Predigten des Feld-Divisionspfarrers. Zweite Reihe, 1916

Abschnitt 9: Predigt 9: zu Ev. Joh. 19, 26-27

[39-43]

Da nun Jesus seine Mutter sah und den Jünger dabeistehen, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: „Weib, siehe, das ist Dein Sohn!" Darnach spricht er zu dem Jünger: „Siehe, das ist Deine Mutter!" Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. Ev. Joh. 19, 2b—27.


Liebe Kameraden!

Das gehörte Textwort ist eins der persönlichsten unter den Kreuzesworten unseres Heilandes, wir wissen, um welchen Preis es bei dem Sterben dieses todwunden Mannes ging. Das Heil und die Errettung einer ganzen Welt standen auf dem Spiel, wie hat er Zeit seines Lebens alles dafür eingesetzt und alles der Erreichung dieses einen, großen Zieles untergeordnet! Von Anfang an hat er um dessentwillen auf vieles verzichtet, was andere genossen. Das heilige „muß ich nicht"? aus dem 1. uns überlieferten Wort des 12 jährigen blieb über seinem ganzen Leben liegen. Er hatte nicht, da er sein Haupt hinlegte, und er trug das gern. Als die Seinen ihn hemmen und zurückhalten wollten in seinem ihn verzehrenden Eifer, da wies er sie, fast in Schroff¬heit, zurück,' und als an seinem letzten Abend sein Jünger schützend das Schwert vor ihn hielt, da hieß er ihn, es in die Scheide stecken. Als ein unerschütterter, aufrechter Mann ging er um seiner großen, heiligen Sache willen bis zuletzt den Weg der Pflicht. — wie hat er die Seinen zu diesem Geist der Herbheit und der Treue erzogen! „Wer seine Hand an den Pflug legt und [S. 40] sieht zurück — so prägt er seinen Jüngern ein — der ist nicht geschickt zu meinem Dienst". „Und wer Vater oder Mutter mehr liebt, denn mich, der ist meiner nicht wert", weil Jesus selbst zu restloser Hingabe an die hohe, ihm anvertraute Sache bereit ist, darum darf und muß er die gleiche Gesinnung auch von den Seinen fordern.

Kameraden, laßt es uns immer aufs neue von Jesus lernen: das Persönliche muß zurücktreten hinter dem, was das Ganze angeht, zumal in einer solchen schweren Zeit, wie die ist, in welcher wir leben. Unser ganzes Volk wird jetzt dazu erzogen, wie noch nie; die in der Heimat und wir hier draußen. Gottlob, daß wir von manchem Erfreulichen dabei sprechen dürfen. Es ist viel Opfersinn, viel willige Hingabe vorhanden, dort und hier, wer aber möchte von sich sagen, daß er dabei nichts mehr zu lernen habe? Drängt sich in der Heimat nicht mancher häßliche, kleinliche Zug hervor und droht das schöne, große Bild, das unser Volk zu Anfang des Krieges bot, wieder zu verderben? Haben wir nicht alle mit der Selbstsucht in uns selbst zu Kämpfen und mit dem Geist, der viel zu viel an sich denkt? was will denn das Glück und das Behagen des einzelnen bedeuten, wenn des deutschen Vaterlandes höchste und heiligste Güter auf dem Spiel stehen? Selbst-Hingabe um den Preis des Ganzen, williges Entsagen und entschlossenes Verzichten auf persönliche Wünsche, — das ist und bleibt unsere Aufgabe, so gewiß wir Christen sind. Laßt uns auch hierbei aufsehen auf Jesum, den Anfänger und Vollender unseres Glaubens.

Nicht herrschen, nicht sich hervordrängen soll das persönliche, Eigene. Aber es soll doch zugleich sein Recht behalten. Auch das lernen wir unter Jesu Kreuz; dort ist es geheiligt worden. Seht auf die Gruppe, davon unser Text erzählt. Maria, - die Mutter des Herrn, — für uns Protestanten ist sie nicht die hehre Himmelskönigin, zu der wir huldigend und anbetend emporblicken, sondern ein durch Glück und Leid gesegnetes Weib, dem unsere Teilnahme gilt, wie kaum einem andern in der Geschichte, hoch begnadigt von Gott durch die hohe ihr gewordene Aufgabe, des Weltheilandes Mutter zu sein, hat ihr auch tiefstes Leid nicht gefehlt, ist vielmehr wie ein Schwert durch ihre Seele gegangen. Soweit unsere Evangelien erkennen lassen, scheint Maria früh Witwe geworden zu sein. Besonders innig mag sich auch infolgedessen das Band zwischen ihr und ihrem Altesten geknüpft haben, der des Vaters Geschäft übernahm und bis zu seinem 30. Jahr führte. Nun will er von ihr gehen, aus diese furchtbare Weise ihr genommen. In tiefem Schmerz lehnt sie am Kreuz, es mit ihren Armen umschlingend. Wer wird sich nun liebevoll um sie mühen? Wer wird für sie sorgen in den Tagen des Alters und der Schwachheit? Wer mag die Herzenswunde heilen, die in dieser Stunde geschlagen wird? — Jesu brechendes Auge ruht auf der Mutter. Ihr Schmerz ist ihm nicht gleichgültig, trotz aller hohen, Himmel und Erde umspannenden Gedanken, die seine Seele bewegen. Liebevoll umfaßt er auch in seinem letzten Denken noch die, die ihm die Nächsten auf Erden sind, und er sorgt für sie. Besser, als durch Geld und Gut, sorgt er für die Mutter. Er gibt ihr ein treues Herz, das sie mit Liebe umgeben, sie hegen und pflegen wird. „Siehe, — sagt er zu ihr mit dem Blick auf Johannes —, siehe, das ist Dein Sohn". Und zu diesem gewendet: „Siehe, das ist Deine Mutter". Legt er dem Freund mit dieser Sorge um die Mutter nur eine Last auf die Schultern? Wir wissen, daß Johannes mit ganz besonderer Innigkeit am Meister hing. Auch Jesus wußte das; wußte, daß niemand seinen Hingang leidvoller empfinden würde, als der Jünger, der an seiner Brust lag. Jesus, als großer Seelsorger, wußte aber auch, daß Liebes- und Arbeits-Pflichten eine Wohltat bedeuten für trauernde, gebeugte Herzen. Nichts Schlimmeres, als ein Sich-Vergraben verwundeter und vereinsamter Liebe in ihren Schmerz!

[S. 42] So ordnet heilige Liebe vom Kreuz herab, was beim Sterben und Abschiednehmen Menschenherzen drückt und bewegt, wie viel ist uns das wert in dieser Zeit des großen Abschiednehmens und Sterbens ringsum. Wie manchem braven Landwehrmann, der mutig und ohne Grauen, zur völligen Selbst-Hingabe bereit, in die Schlacht gegangen ist und dort die Todeswunde empfing, wollen die letzten Stunden draußen auf dem Schlachtfeld oder drinnen im Lazarett schwer werden, wenn er an die Seinen denkt, die er nun zurücklassen muß. „Mein Weib, meine Kinder, — was soll aus ihnen werden"? Haben solche Gedanken nicht auch ihr Recht? Gewiß, sie dürfen keinen Soldaten davon abhalten, bis zum äußersten seine Pflicht zu tun. Weichheit taucht nicht für den rauhen Weg des Krieges. Aber: hast Du Deine Pflicht getan, Kamerad, dann sei getrost. Dein Heiland weiß, wie es solchen Herzen zu Mut ist, die in Treue das Ihre taten und dann scheiden müssen von denen, die ihnen lieb und teuer sind. Als unser treuer Hoherpriester waltet er in der Ewigkeit, und wie er einst in den Tagen seiner Niedrigkeit vom Kreuz herab für die Seinen gesorgt hat, so tut er's nun vom Thron der Herrlichkeit aus. Darum, Kameraden, wenn uns hier, da jeder Tag unser letzter sein kann, die Sorge um unsere Lieben daheim die Herzen beschweren will, dann wollen wir diese Last getrost aus den werfen, der als Vater der Barmherzigkeit und Gott alles Trostes in seinem heiligen Wort für die Witwen und Waisen besondere Zusicherungen seiner Fürsorge und Liebe gibt.

Der Weg, den Gott dabei geht, ist heute oft noch derselbe, den Jesus damals am Kreuz einschlug, als er der Witwe Maria in dem selbst so traurigen Jünger Johannes einen Helfer und Berater bestellte. Geht nicht daheim durch unser von all den zahllosen Opfern getroffenes und tief verwundetes Volk ein ganzer Strom barmherziger, helfender, stützender, tröstender Liebe hindurch? Wie manche Kriegs-Waise ist versorgt; wie mancher Kriegs-Witwe wird geholfen; wie viel helfende Hände regen sich, um die Wunden zu lindern, die diese harte Zeit schlägt. Und wie viele, die selbst ihr Liebstes verloren haben, finden grade darin ihren besten Trost und grade dadurch neuen Inhalt für ihr einsam gewordenes Leben, daß sie andern, ebenfalls schwer Getroffenen beistehen. — So soll es sein nach dem Willen des Gekreuzigten. Und aufs neue mag uns dabei klar geworden sein, wie viel Segen vom Kreuz auf Golgatha fort und fort in die Welt hineinkommt, Amen.


Persons: Eisenberg, Christian
Keywords: Feldpredigten · Feldgeistliche · Augusterlebnis · Landwehrmänner · Lazarette · Kriegswaisen · Kriegerwitwen
Recommended Citation: „Christian Eisenberg, Zwölf Feld-Predigten des Feld-Divisionspfarrers. Zweite Reihe, 1916, Abschnitt 9: Predigt 9: zu Ev. Joh. 19, 26-27“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/125-9> (aufgerufen am 23.04.2024)