Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Synagogen in Hessen

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5120 Neustadt
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Kurfürstentum Hessen 1840-1861 – 62. Neustadt

Neustadt Karten-Symbol

Gemeinde Neustadt (Hessen), Landkreis Marburg-Biedenkopf — Von Susanne Gerschlauer
Basic Data | History | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | References | Indices | Recommended Citation
Basic Data

Juden belegt seit

um 1630

Location

35279 Neustadt, Marburger Straße 11 | → Lage anzeigen

Rabbinat

Oberhessen

preserved

nein

Jahr des Verlusts

1939

Art des Verlusts

Zerstörung

Gedenktafel vorhanden

nein

Weitere Informationen zum Standort

Historical Gazetteer

History

Die Ziegenhainer Linie der Grafen von Nidda gründete um 1250 durch Errichtung einer Burg, um 1270 befestigt, den kurz danach mit Stadtrechten ausgestatteten Ort Neustadt. Schon um 1294 verkaufte der Ortsherr der Stadt, Graf Engelbert I. von Nidda, den Besitz an das Erzbistum Mainz. Durch einen kurzen Wechsel zwischen 1464 und 1549 lag die Ortsherrschaft über die Gemeinde bei den hessischen Landgrafen resp. deren Lehnsnehmern von Dörnberg.1 Danach nahm bis zur Säkularisation 1802 das Erzstift Mainz von Amöneburg aus die Herrschaftsrechte wahr. Von 1802 bis 1806 war Neustadt kurhessisch; anschließend gehörte die Stadt bis 1813 zum napoleonischen Königreich Westphalen. Bis 1866 lag die zuständige Gerichtsbarkeit in den Händen des Kurfürstentums Hessen-Kassel. Seit 1866 wurde sie von Preußen verwaltet, seit 1868 als preußische Provinz Hessen-Nassau. Der Sitz des Regierungspräsidiums war Kassel.

Wahrscheinlich lebten bereits um 1513 vorübergehend Juden in Neustadt. Allerdings scheint erst um 1630 über Amtsrechnungen wieder ein eindeutiger Beleg für die Anwesenheit zweier Juden gegeben zu sein. Um 1650 waren sechs jüdische Familien in Neustadt dauerhaft ansässig und quellenmäßig belegbar. Um 1700 waren es fünf Familien, mit 20 Personen, um 1745 waren es 26 Personen bzw. 1750 sieben Familien. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden 45 Juden gezählt. Um 1807 lebten acht jüdische Familien im Ort. Ihre Zahl stieg kontinuierlich an: von 1861 mit 90 jüdischen Neustädtern auf 130 im Jahr 1905. Im Zuge der zunehmenden antisemitischen Repressalien und Schikanen sank die Zahl von 101 im Jahr 1925 auf nur noch 40 am Vorabend des Krieges 1939.

Gemeinsam mit den Juden aus Momberg bildeten die Neustädter Juden eine Synagogengemeinde mit dem Zentrum in Neustadt, bis die Momberger Juden um 1857 eine selbstständige Synagogengemeinde bilden durften. Um 1857 war der Vorsitzende der Synagogengemeinde Elias Bachrach, zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es Meier Blumenfeld.2 Letzter Vorsitzender der Gemeinde war Hermann Levi. Die jüdische Gemeinde bestand vermutlich bis Mai 1941.3

Die jüdischen Neustädter lebten überwiegend als Händler (Vieh, Kramwaren, Stoffe, Schuhe) und Kaufleute (Eisenwaren, Kolonial- und Manufakturwaren); es gab zwei Mazzenbäckereien.

Die 14 im Jahr 1942 noch in Neustadt lebenden Juden wurden im Frühjahr 1942 verhaftet und in Konzentrationslager deportiert, in denen zehn von ihnen ermordet wurden.4

Betsaal / Synagoge

Ein erster Betraum war spätestens seit 1724 in Räumen des Wohnhauses von Gerson Moyses in Nutzung.5 Um 1753 wollte dieser den Betraum aufgeben, da ein neuer Betraum im Haus von Meyer Daniel eingerichtet werden sollte6, doch wurde der Plan nicht umgesetzt. Weiterhin blieb der Betraum im Haus des Gerson Moyses bzw. dessen Sohnes Jakob.

1773 wurde seitens der zuständigen mainzischen Genehmigungsbehörde der geplante Ankauf einer Scheune zugestanden, um dort einen Gottesdienstraum, eine Lehrerwohnung, Raum für Religionsunterricht und Räume zur Unterkunft von Betteljuden zu schaffen.7 Das Haus stand in der Bogenstraße, ehemals Nummer 34, einer nördlich des alten Stadtzentrums innerhalb des Ortskerns gelegenen Straße. Laut Brandkataster hatte das Gebäude eine Grundfläche von 7,80 x 5,50 Metern und war bis zum 31.3.1901 Eigentum der jüdischen Gemeinde Neustadt.8 Der Gottesdienstraum befand sich in einer Hälfte eines zweigeschossigen Fachwerkbaues aus dem späten 17. Jahrhundert, in der man das Obergeschoss als Gottesdienstraum nutzte. Es gab eine Frauenempore, die durch eine Treppe erschlossen wurde.9 Ob seit der Nutzung des Gebäudes als Synagoge auch von außen Kennzeichen des Judentums sichtbar waren, ist bisher nicht klar.

Um 1857 war die Synagoge für die mittlerweile gewachsene Zahl an Mitgliedern der jüdischen Gemeinde zu klein geworden.10 Aufgrund der Enge der Räumlichkeiten, die maximal Platz für 50 Personen bot, trennten sich die Momberger Juden von der Gemeinde in Neustadt und errichteten eine eigene Synagoge in ihrem Heimatort.

1884 plante die jüdische Gemeinde Neustadt den Neubau einer Synagoge mit Lehrerwohnung, da das Platzproblem erneut auftrat und das alte Haus stark sanierungsbedürftig war, was mit großen Kosten verbunden gewesen wäre.11 Dem Neubauantrag wurde nach längeren Verhandlungen auch innerhalb der jüdischen Gemeinde am 20.8.1885 stattgegeben.12 Genau zwei Jahre nach Erteilung der Baugenehmigung war die neue Synagoge fertiggestellt und konnte am 8.9.1887 durch Provinzialrabbiner Dr. Leo Munk feierlich eingeweiht werden.

Die neue Synagoge stand in der Marburger Straße 11, ehemals Allendorfer Straße 14. Somit lag der Standort an der Hauptdurchgangsstraße von Marburg nach Schwalmstadt, knapp außerhalb westlich des alten Ortskerns, in einem jungen Neubaugebiet des Ortes. Die Planung des viele Jahre zuvor angestrebten Synagogenneubaus lag in den Händen des christlichen Architekten Baumbach.13 Aufgrund ihres Äußeren hob sich das Gebäude von der zur Bauzeit eher spärlichen Nachbarbebauung ab. Der Haupteingang lag der Durchgangsstraße zugewandt und zog durch Attribute eines Gebäudes gehobener Nutzung14 bewusst Aufmerksamkeit auf sich. Durch ein breites Tor wurde der Bau von der Straße getrennt.15

Über einer Grundfläche von 11,20 x 8,0 Metern wurde ein zweigeschossiges Fachwerkhaus mit einem Thoraschreinerker nach Osten gebaut.16 Das Gebäude stand mit seiner Haupteingangseite giebelständig zur Straße. Der Ost-Erker hatte eine Größe von 3,60 x 8 Metern (Tiefe x Breite) und war damit ebenso breit wie der Gesamtbau. Zusätzlich gab es je einen Erker an den Traufseiten, die ca. 1,40 tief und 3,40 bzw. 2,30 Meter breit waren.17 Die Synagoge war über einem steinernen Sockel in Fachwerk erbaut, das bis 1928 verputzte Gefache besaß und dann vollständig verschiefert wurde.18 Im Westgiebel lag der Haupteingang, eine zweiflügelige Tür mit verziertem Tympanon. Im Übergang zum Giebeldreieck schmückte den Westgiebel ein durch Sprossen gegliedertes Rundfenster. Auf der Giebelspitze saß eine (steinerne?) Stele mit rundem, kugelförmigem Abschluss, die Giebelkanten, vom Satteldach etwas erhaben, zierten kleine Obelisken.

Die Südtraufe besaß vier Fensterachsen. In Erd- und Obergeschoss waren je hochrechteckige Sprossenfenster mit rundbogigem Oberlicht eingebaut.19 Ein schmaler Erker im westlichen Drittel der Erdgeschosswand, der nach Westen hin eine einflügelige Tür besaß, wies unterhalb des zweiten Obergeschossfensters von Westen zwei schmale Rundbogenfenster auf. Der Erker war mit einem schiefergedeckten Pultdach versehen. Der sich nach Osten anschließende Aron Hakodesch-Erker besaß wahrscheinlich ein schiefergedecktes Walmdach. Der Aron Hakodesch zusammen mit dem Almemor, der vor ihm auf einem Podest stand, war um einige Stufen erhöht. Vom restlichen Gottesdienstraum war das Allerheiligste durch einen auf Säulen stehenden Zackenbogen in Hufeisenform abgetrennt.

Die Synagoge bot Sitzplätze für ca. 100 Männer im Erdgeschoss und ca. 50 Frauen auf der dreiseitig umlaufenden Empore. Diese stand im Erdgeschoss auf Säulen mit Basis und Kapitell. Im überhöhten Obergeschoss stützten ebenfalls Säulen mit Kapitell die Flachdecke.20 Zur Erschließung des Obergeschosses mit Empore und weiteren Nutzräumen diente eine in der Nordwestecke eingebaute viertelgewendelte Treppe.21 Zum Bestand zählte ein Almemor mit Vorhang und ein Kronleuchter mit sechs kleinen Armleuchten.22

Eine erste Sanierung des Gebäudes wurde 1898 durchgeführt, als eintretendes Grundwasser die Abdichtung der Fundamente nötig werden ließ. Gleichzeitig wurde die Mikwe repariert, die jedoch später aus hygienischen Gründen geschlossen und in ein separates Gebäude verlegt werden musste. Um 1919 wurde mit der Einrichtung eines Schulraumes für den Religionsunterricht im Obergeschoss der Synagoge begonnen, die um 1920 abgeschlossen war. Um 1928 wurden im Inneren der Synagoge Reparaturmaßnahmen durchgeführt.23

Schon im August 1888 hatte es einen Anschlag auf die Synagoge gegeben, bei der alle Fenster eingeworfen worden waren. Dieser Anschlag war offensichtlich auf eine wenige Tage zuvor gehaltene antisemitische Hetzrede Otto Böckels zurückzuführen. 1935 war die Synagoge erneut Ziel eines Anschlags, bei dem einzelne Kultgegenstände zerstört wurden.24 In der Nacht vom 8. zum 9.11.1938 zerstörten die Nationalsozialisten vollständig das Innere des Gebäudes und warfen das Mobiliar aus den Fenstern.25

Am 13.2.1939 wurde die Synagoge an die politische Gemeinde zwangsverkauft. Nachdem diese alle noch verwertbaren Teile des Gebäudes verkauft hatte, ließ sie das verbliebene Grundstück parzellieren und verkaufte die beiden daraus hervorgegangenen Grundsteile.26

Weitere Einrichtungen

Mikwe

Um 1825 wird eine Mikwe im Haus von Markus Bachrach (Hausnummer 72) vermerkt.27

Im Keller der jüngsten Synagoge von 1887 lag eine Mikwe, die eine Größe von 5,10 x 4,0 Meter besaß. Aus bautechnischen Mängeln musste das Fundament der Synagoge 1898 saniert werden. Dabei wurde auch die Mikwe zunächst repariert, musste aber aus daraus resultierenden hygienischen Defiziten 1901 geschlossen werden.28 1905 wurde ein Mikwenneubau in der Nähe der Synagoge fertiggestellt. Das kleine Gebäude besaß ein quadratisches Tauchbecken, das aus dem benachbarten Brunnen mit Wasser versorgt wurde.29

Schule

Ein Raum für Religionsunterricht war von 1773 bis um 1900 Teil des alten Synagogengebäudes. Danach fand der Unterricht in privat angemieteten Räumen statt, bis um 1920 im Obergeschoss der jüngsten Synagoge ein Raum von ca. 23,59 Quadratmetern Größe für den Religionsunterricht der Kinder aus Neustadt und Momberg eingerichtet wurde.

Cemetery

Vor der Neuanlage eines eigenen Friedhofs für die Neustädter und Momberger Juden begruben diese ihre Verstorbenen auf dem etwa 12 Kilometer westlich entfernt liegenden alten jüdischen Sammelfriedhof in Hatzbach. Seit 1828 besaß die Synagogengemeinde Neustadt einen Friedhof auf dem Simonsberg, heute „Simmesberg“, ca. 1,5 Kilometer nördlich von Neustadt, östlich der Straße nach Momberg. 1907 wurde der Friedhof erweitert und hat seitdem eine Fläche von ca. 2.400 Quadratmetern. Die erste Bestattung erfolgte 1830.30

Hatzbach, Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen
Neustadt (bei Marburg), Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen

Grabstätten

Neustadt (bei Marburg), Jüdischer Friedhof: Grabstätten anzeigen

References

Weblinks

Sources

Bibliography

Illustration available

(in Bearbeitung)

Indices

Persons

Nidda, Grafen von · Nidda, Graf Engelbert I. von · Dörnberg, Herren von · Bachrach, Elias · Blumenfeld, Meier · Levi, Hermann · Gerson Moyses · Jakob · Jakob Gerson · Baumbach, Architekt · Munk, Leo, Dr., Landesrabbiner · Bachrach, Markus

Places

Momberg · Schwalmstadt · Hatzbach

Sachbegriffe Ausstattung

Thoraschreine · Aron Hakodesch · Almemore · Vorhänge · Kronleuchter

Sachbegriffe Architektur

Fachwerkbauten · Sockel · Erker · Gefache · Tympana · Rundfenster · Stelen · Satteldächer · Obelisken · Sprossenfenster · Oberlichter · Rundbogenfenster · Pultdächer · Emporen · Säulen · Basen · Kapitelle · Flachdecken · Fundamente

Fußnoten
  1. Die Herren von Dörnberg ließen während ihrer Neustädter Zeit zusätzliche Befestigungstürme bauen, darunter auch den 1480 errichteten sogenannten „Junker-Hansen-Turm“.
  2. Schneider, Kirchhain, S. 115 f. und 121 sowie Sieburg, S. 238. Vgl. Ortsartikel Neustadt auf Alemannia Judaica (s. Weblink)
  3. Arnsberg, Jüdische Gemeinden 2, S. 124 f.
  4. Gedenkstätte Yad Vashem (s. Weblink); vgl. Arnsberg, Jüdische Gemeinden 2, S. 126
  5. Schneider, Kirchhain, S. 117
  6. Schneider, Kirchhain, S. 118 f.
  7. HStAM 105 c, 1995; siehe auch Schneider, Kirchhain, S. 119
  8. Schneider, Kirchhain, S. 119
  9. Sieburg, S. 219
  10. Schneider, Kirchhain, S. 121
  11. Schneider, Kirchhain, S. 122
  12. 1885 hatte der Architekt Baumbach die erste Planung für den Neubau vorgelegt. Dieser Plan wurde in Teilen überarbeitet mit dem Ziel, die bis dahin nach außen sichtbaren maurischen Formen wegzulassen zugunsten gewohnter, regional typischer Rundbogen und reduzierter Zierart.
  13. Sieburg, S. 227
  14. Deutliche Attribute der jüdischen Religion, z.B. Davidstern, Dekalog waren nicht vorhanden. Möglicherweise wurde die dahin zuzuordnende, das Dach bekrönende Kugel von nichtjüdischen Betrachtern so nicht verstanden.
  15. Sieburg, S. 236
  16. Ausführliche Darstellung von Planung und Umsetzung des Gebäudes bei Sieburg, S. 181–293
  17. Sieburg, S. 123, 161
  18. Sieburg, S. 238
  19. Ältere Entwürfe sahen hufeisenbogige Abschlüsse vor, die jedoch von der Synagogengemeinde zugunsten regionaltypischer Formen verworfen wurden.
  20. Vgl. diverse Abbildungen bei Sieburg, S. 235, 239
  21. Sieburg, S. 234
  22. Schneider, Kirchhain, S. 123
  23. Schneider, Kirchhain, S. 123
  24. Schneider, Kirchhain, S. 123
  25. Schneider, Kirchhain, S. 124
  26. Schneider, Kirchhain, S. 123
  27. Schneider, Kirchhain, S. 119
  28. A. Schneider, Kirchhain, S. 123
  29. Sieburg, S. 241 und Plan auf S. 245
  30. Schneider, Kirchhain, S. 120
Recommended Citation
„Neustadt (Landkreis Marburg-Biedenkopf)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/syn/id/489> (Stand: 23.7.2022)