Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Synagogen in Hessen

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4725 Bad Sooden-Allendorf
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Kurfürstentum Hessen 1840-1861 – 25. Allendorf

Abterode Karten-Symbol

Gemeinde Meißner, Werra-Meißner-Kreis — Von Martin Arnold
Basic Data | History | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | References | Indices | Recommended Citation
Basic Data

Juden belegt seit

1600

Location

37290 Meissner, Ortsteil Abterode, Vorderweg 1 | → Lage anzeigen

Rabbinat

Niederhessen (Kassel)

preserved

ja

Gedenktafel vorhanden

ja

Weitere Informationen zum Standort

Historical Gazetteer

History

Für das Jahr 1600 wird erstmals ein in Abterode ansässiger Jude erwähnt.1 Unter der Herrschaft der Landgrafen von Hessen-Rotenburg (1627-1834) nahm die Zahl der jüdischen Familien stark zu, so dass die Gemeinde im 18. und 19. Jahrhundert zu den größten in Niederhessen zählte. Die gezielte Ansiedlungspolitik durch die Landgrafen in ihrer „Rotenburger Quart“ hatte vor allem finanzielle Gründe. Durch Schutzgelder und andere Abgaben erzielten die Landgrafen erhebliche Einnahmen. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebten viele Abteröder Juden vom Viehhandel, vor allem vom Handel mit Pferden. Mitte des 19. Jahrhunderts waren Juden auch in mehreren Handwerksberufen tätig, viele hatten auch eine kleine Landwirtschaft.

Einen Eindruck von der Stärke der jüdischen Gemeinde im 18. Jahrhundert gibt ein Kataster aus dem Jahr 1750.2 Danach waren für die Gemeinde elf Mitglieder mit rabbinischen Ehrentiteln, vier Schulmeister, vier Vorsteher, ein Auszahler, ein „Pedell“ (Synagogendiener), ein „Schulklepper“ (der mit einer Klapper zum Gottesdienst rief), ein Beschneider und ein Schächter tätig.

In älterer Zeit wurde meist nur die Zahl der Familien festgehalten. Diese nahm nach dem Dreißigjährigen Krieg stark zu. 1622: sieben Familien; 1642: neun Familien; 1646: 12 Familien; 1664: 16 Familien; 1701: 20 Familien; 1741: 39 Familien; 1812: 53 Familien. Seit dem 19. Jahrhundert wurde auch die Zahl der Personen erfasst. 1835: 234 Personen; 1861: 158 Personen; 1871: 139 Personen; 1885: 183 Personen; 1905: 167 Personen; 1910: 122 Personen; 1924: 102 Personen; 1932/33: 93 Personen; 1933: 80 Personen; 1939: 31 Personen; 1940: zehn Personen. Mitte des 18. Jahrhunderts galt Abterode als die größte jüdische Landgemeinde in Niederhessen.3 Die Zahl der jüdischen Einwohner in Abterode ging zwar seit Mitte des 19. Jahrhundert kontinuierlich zurück, galt aber immer noch als bedeutend.4

Mit der Verfilmung der Jüdischen Personenstandsregister durch das Reichssippenamt der NS-Zeit (sogen. Gatermann-Filme) sind zu Abterode über den großen Zeitraum von 1745 bis 1937 Geburts-, Heirats- und Sterberegister mit weiterführenden Angaben zur Synagogengemeinde erhalten.5 Sie umfassen zum Teil auch die jüdische Bevölkerung zu Frankershausen, Germerode und Vockerode.

An herausragenden Persönlichkeiten hat die jüdische Gemeinde Abterode den Talmudgelehrten Rabbi Dawid ben Moses Abterode (+ 1728) sowie den Kantor und Thora-Schreiber Juda Löb ben Mose Selichower (+ 1751) hervorgebracht.

Pogrome sind in älterer Zeit nicht belegt. Umso mehr lassen sich die Ereignisse der NS-Zeit verfolgen. Im Zusammenhang mit dem Pogrom am 8.11.1938 wurde die Synagoge verwüstet. In einem jüdischen Laden und in sieben Wohnungen wurden Türen und Fenster eingeschlagen.6 Einige Männer wurden verhaftet und in das KZ Buchenwald verschleppt. Durch die zunehmende Entrechtung und Diskriminierung schon seit 1933 wurden viele Abteröder Juden zur Auswanderung gezwungen. Von den in Abterode geborenen oder längere Zeit am Ort lebenden Juden wurden 82 während der NS-Zeit ermordet.7 Nach 1941 lebten keine Juden mehr in Abterode.

Betsaal / Synagoge

Zum Jahr 1663 war die Gemeinde um die Einrichtung einer Synagoge bemüht.8 Diese Bemühungen scheinen bald erfolgreich gewesen zu sein. Im Jahr 1729 bestand dann eine Synagoge, wie die aktenkundig gewordene öffentliche Überführung einer neuen Thorarolle in die Synagoge aus diesem Jahr zeigt.9 Dabei behauptete der 79jährige Abraham Levi, etwa 50 Jahre früher habe man schon einmal eine Thorarolle „in die Schule getragen“.10 Es könnte das Gebäude im heutigen Steinweg 47/49 gewesen sein, wo im Steuerkataster bereits seit 1750 eine „Juden-Schule“ erwähnt wird.11 Das Grundstück ist in einer Karte von 1791 als „Juden-Schule“ eingezeichnet.12

Synagogenordnungen sind für die Provinz Niederhessen aus dem Jahr 1827 und für den Kreis Eschwege aus dem Jahr 1859 erhalten. Sie regelten den Gottesdienst im Detail.13

Am 30.7.1869 erwarb die Gemeinde von dem Bäcker Itzig Menke Rothschild dessen Haus im heutigen Vorderweg 1.14 An Stelle dieses Hauses errichtete sie im Jahr 1871 eine neue Synagoge. Sie liegt mitten im Ort an einer Kreuzung mehrerer Straßen, unweit der evangelischen Kirche.15 Leider wissen wir bis jetzt nicht, wer der Architekt war. Auch Bauzeichnungen wurden bisher nicht gefunden und über die Finanzierung des aufwändigen Baues fehlen entsprechende Quellen.16

Der zweigeschossige Massivbau aus rotem Sandstein hat einen quadratischen Grundriss und trägt ein schieferbedecktes Walmdach. Das Gebäude ist völlig symmetrisch angeordnet. Nord- und Südseite sind durch Lisenen in zwei Felder gegliedert, West- und Ostseite in drei Felder. Hinzu kommt eine umlaufende Gliederung durch ein Gurt- und ein Dachgesims. Rundbogenfenster und Rundbogenportale geben dem Gebäude ein besonderes Gepräge, so dass es sich insgesamt stark von den Fachwerkwohnhäusern in der Umgebung abhebt.17

Der Haupteingang befand sich im Westen. Über ihm lag ursprünglich ein großes dreiteiliges Fenster. Darüber erhob sich ein Zwerchgiebel, an dessen Spitze Gesetzestafeln das Gebäude als Synagoge kennzeichneten. Einen weiteren Eingang gab es an der Ostseite, der über zwei Treppen zur Frauenempore hinaufführte. Der Thoraschrein befand sich an der Ostseite der Synagoge. Der Innenraum fasste unten 110 Plätze für die Männer und oben auf der Empore 60 Plätze für die Frauen.18

Die Innenwände waren mit stilisieren Pflanzenornamenten geschmückt, von denen sich einige im Obergeschoss erhalten haben. Die Decke ist mit farbigen Blumen und Rankenwerk in mehrere Felder geteilt, die mit dunkelblauen Davidsternen auf hellblauem Grund gefüllt sind. An den vier Ecken und in der Mitte der Decke sind die Aufhängungen für Leuchter durch Stuckmedaillons markiert.

Über die Inneneinrichtung und Kultgegenstände informiert eine Aufstellung, die der ehemalige Gemeindevorsteher Moritz Katzenstein im Jahr 1960 aus dem Gedächtnis zu Protokoll gegeben hat. Danach besaß die Synagoge u.a. 18 Thorarollen, 100 Thoramäntel, 12 Thoraaufsätze („Schellenstöcke“), 300 Thorawimpel, sechs Thoraschilder und sechs Lesefinger.19

Während des Pogroms am 8. November 1938 wurde die Inneneinrichtung der Synagoge zerstört. Einzelheiten über den Pogrom gehen aus Prozessakten20, Augenzeugenberichten21 und weiteren Unterlagen22 hervor.

Die Synagoge sollte eigentlich abgerissen werden. Der Spar- und Darlehensverein Abterode bat jedoch darum, das Gebäude als Lagerraum für Getreide, Futter- und Düngemittel nutzen zu dürfen. Im Jahr 1939 wurde das Gebäude für 2.000 Reichsmark an den Darlehenskassenverein verkauft. Dies geschah mit der Auflage, es baulich so zu verändern, dass es als Synagoge nicht mehr erkennbar sei.23

Zunächst wurde die Synagoge von 1945 bis 1950 als landwirtschaftliche Berufsschule genutzt.24 Danach wurde sie vom Raiffeisenverband als Lager verwendet. Obwohl die Zeit des Nationalsozialismus vorbei war, wurde das Gebäude in der Folge baulich so grundlegend verändert, wie es die Nationalsozialisten gefordert hatten. Man zog eine Zwischendecke ein, um mehr Lagerfläche zu gewinnen. Durch den Einbau eines Lastenaufzugs wurden Untergeschoss und Obergeschoss miteinander verbunden. Die Sandsteinquader überzog man mit einer Putzschicht. Die Rundbogenfenster wurden zu eckigen Fenstern umgestaltet. Die Westfassade und das Eingangsportal wurden zerstört und durch eine Laderampe völlig umgestaltet.

Erst in den Jahren 1992/93 wurden unter Aufsicht des Landesamtes für Denkmalpflege einige bauliche Veränderungen wieder rückgängig gemacht. Damals brachte man eine Gedenktafel an, die an das wechselvolle Schicksal des Gebäudes erinnert.25 Im Jahr 2011 eröffnete der Diakonie-Verein „Aufwind“ im Untergeschoss des Gebäudes ein „Lädchen für alles“. Im Obergeschoss richtete der „Verein der Freundinnen und Freunde jüdischen Lebens im Werra-Meissner-Kreis“ im Jahr 2019 einen Lern- und Gedenkort für jüdisches Leben in der Region Werra-Meißner ein. Auf dem Dachboden der Synagoge wurde im Jahr 1988 die Genisa der Gemeinde gefunden; sie ist inzwischen wissenschaftlich untersucht.26

Weitere Einrichtungen

Mikwe

Die Mikwe befand sich Mitte des 18. Jahrhunderts auf dem Grundstück in der heutigen Braugasse 1. Im Jahr 1856 wurde sie abgebrochen und durch ein neues Tauchbad hinter dem Haus „Sand 3“ ersetzt.27

Schule

Seit Ende des Jahres 1823 war es den Juden im Kurfürstentum Hessen erlaubt, unter staatlicher Aufsicht jüdische Schulen einzurichten.28 Eine jüdische Schule bestand vermutlich seit 1828 im heutigen Gebäude Steinweg 47. Anfang 1934 wurde die jüdische Schule wegen des starken Rückgangs der Schulkinder geschlossen. Stattdessen genehmigten 1937 die Behörden eine jüdische Privatschule.

Cemetery

Außerhalb der Dorfsiedlung Abterode wurde um das Jahr 1660 „Am Rehberg“ der jüdische Friedhof angelegt, wie aus einer Notiz in den Eschweger Amtsrechnungen hervorgeht.29 Der älteste erhaltene Grabstein gibt als Sterbedatum das Jahr 1659 an, die anderen schließen sich chronologisch an. Sie bestätigen, dass der Friedhof seit dieser Zeit ununterbrochen genutzt wurde. Die letzte Beerdigung fand 1941 statt. In der NS-Zeit und namentlich während des Novemberpogroms 1938 wurden auch Grabsteine zerstört, wie aus der Entschädigungsakte hervorgeht. Das Ausmaß ist nicht bekannt.30 Der Friedhof diente von Anfang an auch den Juden aus Frankershausen, Germerode und Vockerode als Grablege.

Der Friedhof enthält heute noch 495 Grabsteine. Er wurde 1993 von der „Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen“ dokumentiert, dazu ein Lageplan gefertigt und in LAGIS eingestellt. Die Grabinschriften sind frei zugänglich.

Abterode, Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen

Grabstätten

Abterode, Jüdischer Friedhof: Grabstätten anzeigen

References

Weblinks

Sources

Bibliography

Illustration available

(in Bearbeitung)

Indices

Persons

Hessen-Rotenburg, Landgrafen von · Dawid ben Moses Abterode · Juda Löb ben Mose Selichower · Abraham Levi · Rothschild, Itzig Menke · Katzenstein, Moritz

Places

Frankershausen · Germerode · Vockerode

Sachbegriffe Geschichte

Rotenburger Quart · Dreißigjähriger Krieg · Pogrome · Buchenwald, Konzentrationslager · Synagogenordnungen · Abterode, Darlehenskassenverein · Abterode, Raiffeisenverband · Abterode, Diakonieverein „Aufwind“ · Abterode, Verein der Freundinnen und Freunde jüdischen Lebens im Werra-Meissner-Kreis

Sachbegriffe Ausstattung

Thorarollen · Gesetzestafeln · Thoraschreine · Davidsterne · Leuchter · Thoramäntel · Thoraaufsätze · Schellenstöcke · Thorawimpel · Thoraschilde · Lesefinger · Genizoth

Sachbegriffe Architektur

Sandstein · Walmdächer · Lisenen · Gurtgesimse · Dachgesimse · Rundbogenfenster · Rundbogenportale · Fachwerkbauten · Zwerchgiebel · Frauenemporen · Emporen · Pflanzenornamente · Stuckmedaillons

Fußnoten
  1. HStAM 40 d, 253, und 40 a, SVI; Zum Folgenden vgl. ausführlich Arnold, Jüdische Gemeinschaft, S. 53–74 und zuletzt Kollmann, Warum Abterode?, S. 15-20
  2. Arnold, Jüdische Gemeinschaft, S. 62 ff.
  3. Kollmann, Warum Abterode?, S. 15
  4. Kollmann/Wiegand, Spuren einer Minderheit, S. 73
  5. HHStAW 365, 32-41
  6. HStAM, 180 Eschwege, 1523: Bericht des Landrates in Eschwege über die Schäden an jüdischem Eigentum an die Gestapo in Kassel vom 23.11.1938
  7. Ortsartikel Abterode auf Alemannia Judaica (s. Weblink)
  8. Dies geht aus dem Schreiben eines unbekannten Eschweger Amtsträgers an das Konsistorium in Kassel vom 12.9.1663 hervor (KKA-ESW, 4 Abterode, 41)
  9. HStAM, 17/2, 1168
  10. HStAM, 17/2, 1168
  11. Auch im heutigen „Hinterweg 7“ wird in den jährlichen Amtsrechnungen ein Gebäude seit 1750 der „Gemeinen Judenschaft“ zugeordnet. Bereits vor 1720 wird es das „Rabbihaus“ genannt. Vgl. Kollmann, Warum Abterode?, S.16. Das Gebäude mit quadratischem Grundriss ist bis heute erhalten.
  12. Kollmann, Warum Abterode?, S. 16
  13. Kollmann/Wiegand, Spuren einer Minderheit, S. 116-120, mit Abdruck der Synagogenordnung von 1859 und Bericht über die israelitische Gemeinde in Eschwege, 1858
  14. HStAM Kataster I, Abterode B 7, fol. ½ a
  15. Dies geht aus einer Inschrift über dem Osteingang hervor (ehemals Eingang zur Frauenempore). In dem hebräischen Bibelwort Jes. 2,3 ist das Baujahr nach Buchstabenwerten verschlüsselt enthalten.
  16. Entsprechende Recherchen im HStAM hatten keinen Erfolg.
  17. Altaras, Synagogen, S. 188 f.
  18. HHStAW 518, 1347
  19. HHStAW 518, 1347
  20. HStAM, 274 Kassel, 1085: Urteil des Landgerichts Kassel vom 22.4.1949 in einem Prozess gegen am Pogrom Beteiligte wegen Landfriedensbruchs
  21. Toni Trebing berichtet über ihre Kindheit in Abterode. Zeitzeugeninterview vom 2.5.2018, anzusehen im Lern- und Gedenkort Synagoge Abterode
  22. HStAM, 180 Eschwege, 1523: Bericht des Landrates in Eschwege über die Schäden an jüdischem Eigentum an die Gestapo in Kassel vom 23.11.1938; S. Brueckheimer Collection about the November Pogrom 1938 in Germany („Kristallnacht“). Jerusalem, Yad Vashem Archives, Record Group 0.42, File 12/13
  23. HStAM, 180 Eschwege, 6368
  24. Schenkel, Jüdischer Teil der Bevölkerung, S. 88
  25. Altaras, Synagogen, S. 189, mit Abb. und Text der Inschrift
  26. Lehnardt, Genisa Abterode, S. 5-14
  27. Kollmann, Warum Abterode?, S. 16
  28. Arnold, Jüdische Gemeinschaft, S. 66 ff.
  29. HStAM, Rechnungen II, Eschwege 10
  30. HHStAW 518, 1347
Recommended Citation
„Abterode (Werra-Meißner-Kreis)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/syn/id/239> (Stand: 22.7.2022)