Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Neuhaus, Landsturm-Infanterie-Bataillon Hersfeld, 1914-1915

Abschnitt 16: Besetzung eines herrschaftlichen Anwesens

[Teil IV, 18-25] [19-20] In einem von seinem Besitzer verlassenen Schlößchen hoch am Bergeshange hat die Feldwache 3 ihre Wohnung ausgeschlagen. An hellen Tagen ist der Ausblick herrlich, die weite Ebene fängt hier an ins Gebirge überzugehen, über 100 Meter über dem Meeresspiegel erheben sich schon die Bergrücken, die hie und da mit einem kleinen Wäldchen bedeckt sind. Da liegt vor uns das Dorf Overboulaere1 das uns mit allem Notwendigen, was wir nicht von der Kompagnie erhalten, versorgen muß, denn in seinem Gemeindebezirk hausen wir. Da liegt Grammont oder, wie die Stadt mit ihrem alten, deutschen Namen heißt und auch noch heute von den Vlaemen genannt wird, Geerardsbergen, wunderschön gelegen, Marburg ähnlich, am Fuße eines Berges, den eine Wallfahrtskapelle krönt. Vor beiden Orten her spiegeln die Fluten des Denderflußes herauf, der durch einen weiten Wiesengrund sich schlängelt, den schon jetzt Ende Januar saftiges Grün bedeckt. Ganz im Vordergründe ,,unser" Park: Baumgruppen, Rasenflächen, Hecken von immergrünen Sträuchern, Standbilder, ein verträumter Teich. Im Schlößchen selbst lebt es sich gut. Bis unters Dach hinaus sind alle Räume mit unseren Strohsäcken und Matratzen besetzt. In kleineren Gruppen haben wir uns zusammengefunden, jede macht es sich so gemütlich, wie sie es kann. Alles hat wenig [S. 20] Kasernenmäßiges, und das ist auch mal wohltuend. Der große Tisch unter dem Kronleuchter in der ehemaligen Empfangshalle vereinigt tagtäglich wiederholt alle zum Gewehrreinigen, Befehls- und Postempfang, zur Wacheinteilung usw. In Küche und Speisekammer waltet unser Koch seines mühevollen Amtes. Reichhaltig kann sein Menü ja nicht sein, es wechselt zwischen Erbsen-, Bohnen-, Reis- und Kartoffelsuppe, aber einmal gabs auch Gulasch und ein andermal gar Sauerkraut. Und alles war vortrefflich. So gut essen die anderen Feldwachen nicht, behaupten Leute, die es wissen müssen. Das Fleisch und die anderen Küchenbedürfnisse kommen mit dem Kommisbrot und Petroleum alle zwei Tage von unserer Kompagnie aus Sottegem nach Grammont. Ehe wir das alles die 3 Km. hinauf auf unser Schlößchen haben, ist bei den durch Regen bös aufgeweichten Wegen mancher Tropfen Schweiß vergossen. Es ist wie zu unserer Vorväter Tagen: Der Schuhmacher zieht von Haus zu Haus d. h. von Feldwache zu Feldwache und kuriert das allmählich arg mitgenommene Schuhwerk; auch einen Schneider haben wir uns verschrieben, der alle Hände voll zu tun hat und mit Hilfe der Nähmaschine, die die Frau des Hauses so gütig war, im Stich zu lassen, das morsch gewordene Zeug ausbessert, so gut es eben geht. Täglich fahren einige Leute, die dienstfrei sind, mittags von Grammont nach Sottegem, um die Befehle von der Kompagnie zu holen und im Rucksack unsere Post hin und her zu besorgen, denn in Sottegem ist ein deutsches Postamt, wo man auch die deutschen Briefmarken mit dem Centimes-Ueberdruck erhalten kann. Gegen abend kommen sie mehr oder minder schwer beladen zurück, leer kamen sie noch niemals in den sieben Wochen, die wir nun hier schon liegen. Ab und zu fährt auch ein Kranker mit nach Sottegem zum Arzt, Gott sei Dank waren es bisher alles leichte Fälle.


  1. Ouverboelare, ca. 16 km von Zottegem entfernt.

Personen: Neuhaus, Wilhelm
Orte: Grammont · Geraardsbergen · Hersfeld · Marburg · Ouverboelare · Zottegem
Sachbegriffe: Herrenhaus · Schloss · Unterkunft · Verpflegung · Wallfahrtskirche
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Neuhaus, Landsturm-Infanterie-Bataillon Hersfeld, 1914-1915, Abschnitt 9: Besetzung eines herrschaftlichen Anwesens“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/21-16> (aufgerufen am 29.04.2024)