Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Neuhaus, Landsturm-Infanterie-Bataillon Hersfeld, 1914-1915

Abschnitt 18: Beschreibung der Stadt Grammont und des Krakelingenwerpen-Festes

[Teil IV, 18-25] [21-22] Oft gehen wir nach dem nahen Grammont, eine Stadt von 15 000 Einwohnern, die durch ihre großen Streichholz- und Zigarrenfabriken bekannt ist. So malerisch ihre Lage ist, so nüchtern ist ihr Inneres. Eine richtige Fabrikstadt mit Häusern im Zigarrenkistenformat, die in möglichst geraden und darum eintönigen Fronten aufgestellt sind. Nur die bergige Lage bringt in einige Straßenzüge etwas wohltuenden Rhypthmus hinein. Rathaus und Kirche heben sich nicht merklich aus dieser architektonischen Wüste heraus. Der einzige Denkmalsschmuck der Stadt ist eine Manneken-Figur, die der weltberühmten in Brüssel nachgeahmt ist. Sie hat ihre Geschichte. Im Jahre 1648 entführten die Engländer das Brüsseler Manneken, mußten es aber aus irgendeinem Grunde in Grammont zurücklassen. Die Grammonter stellten es auf ihrem Marktplatz auf. Aber die Brüsseler forderten ihr geliebtes Männchen zurück, und brachten es im Triumph am seinen früheren Platz zurück, doch erlaubten sie der Stadt Grammont, eine Nachbildung der Statuette anzufertigen, die [S. 22] noch heute auf dem Marktplatz steht. Ueber den Geschmack läßt sich streiten. Der kleine Wasserspender in Brüssel ist ein derber Künstlerscherz, wie ihn das Mittelalter liebte, das gibt der Figur auch heute noch in unserem feiner empfindenden Zeitalter ihre Daseinsberechtigung. Diese kann das Grammonter-Männchen nicht für sich in Anspruch nehmen.

Die Stadt hat ein eigenartiges Fest, das am Anfang des Frühlings gefeiert wird, das Krakelingenwerpen. Da ist vor so und so vielen hundert Jahren der Ort einmal belagert worden. Da der Feind die feste Stadt nicht einnehmen konnte, gedachte er, ihn auszuhungern. Schon war auch die Not aufs höchste gestiegen. Da fütterte man mit dem letzten Futter, was man hatte, eine Kuh fett und trieb sie zum Tor hinaus, backte von dem letzten Mehl Gebäck und warf es in das feindliche Lager. Durch diese List täuschte man den Feind, der, weil er die Stadt noch so wohl verproviantiert wähnte, die Belagerung als aussichtslos aufhob und davon zog. Zum Andenken an diese Begebenheit, feiert man noch heute das Krakelingenfest, bei dem kleine Kuchen (Krakelingen) unter das Volk geworfen werden. Die Stadt hat allein 5000 solcher Kuchen zu liefern. Daß mit diesem Feste noch andere eigentümliche Gebräuche verbunden sind – so hat der Bürgermeister ein Glas Wein, in dem ein kleiner lebendiger Fisch schwimmt, zu trinken d. h. den Fisch mit – sei nebenbei erwähnt. Dieses Jahr wird wohl aus dem Krakelingenwerpen nicht viel werden.


Personen: Neuhaus, Wilhelm
Orte: Brüssel · Grammont · Hersfeld
Sachbegriffe: Belagerung · Brauchtum · Feste · Zigarrenfabriken
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Neuhaus, Landsturm-Infanterie-Bataillon Hersfeld, 1914-1915, Abschnitt 18: Beschreibung der Stadt Grammont und des Krakelingenwerpen-Festes“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/21-18> (aufgerufen am 05.05.2024)