Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Neuhaus, Landsturm-Infanterie-Bataillon Hersfeld, 1914-1915

Abschnitt 13: Beschreibung erster Eindrücke von Stadtbild und Bevölkerung

[Teil III, 14-17] [15-16] Gent, die Hauptstadt Ostflanderns, ist die Stadt der Blumen und alten Gebäude, und was wir von ihrer Schönheit in den wenigen Stunden erhaschen konnten, das war genug, um für lange Zeit unsere kulturhungrige Seele mit manchem tiefen Eindruck zu erfüllen. Da waren wir nun einmal wieder nach der wochenlangen Stille der Kleinstadt mitten im flutenden großstädtischen Leben, das nun Mars regierte. Zwischen der Zivilbevölkerung überall deutsche Soldaten vom jüngsten Freiwilligen bis zum ältesten Landstürmer, aus allen Gauen und Waffengattungen. Auch österreichische Waffenbrüder von den Motorbatterien, schmucke, schmiegsame Gestalten in kleidsamen Uniformen. Militär-Autos ohne Ende in rasender Fahrt, Sanitäter und deutsche Krankenschwestern, Verwundete, Genesende, Frischangekommene. Hoch in den Lüften treibende Fliegervögel, die sich hier auf dem großen Rennplatz ihre Nester gebaut haben. Deutsches Militär ist Trumpf. Nicht ohne Opposition sehen die Genter dem allen zu. Ostentativ tragen die hübschen schlanken junges Mädel die belgischen Farben und ein Medaillon ihres Königs, in der Jakobskirche knien die Beter vor dem mit Flaggentuch geschmückten Altar des Schutzheiligen der Kirche, über dem in großen Lettern steht; „Hl. Joseph, Patron van Belgie! Bescherm ons Vaderland!" In einer Bäckerei konnte man in großem Format den Sankt Nikolaus (der Klaustag - nicht Weihnachten – ist der Tag der Kinderbescherung in Belgien) aus Honigkuchenteig sehen, der unverkennbar unseren Kaiser in Admirals-Uniform karrikieren sollte. Er war aber bald aus dem Fenster verschwunden. Ueberall auch Postbeamten mit umgeschnalltem Seitengewehr, denn hier ist nicht nur eine Feldpostanstalt, sondern auch ein großes deutsches Postamt und ein Telegraphenamt. Vom Kriegsschauplatz waren wir nun weiter abgerückt und schwächer schallte der unaufhörliche Kanonendonner [S. 16], herüber, aber eines guten Tages platzten in Gent die Granaten, die von einem englischen Flieger – auch von uns beobachtet – auf Benzintanks geworfen wurden. Glücklicherweise ohne für uns Schaden anzurichten, nur ein paar belgische Zivilisten wurden verwundet. Vor den Toren Gents sahen wir auch das erste Schlachtfeld bei dem Dorfe Quatrecht1. Hier hatten am 9. und 10. Oktober das 1. und 2. Reserve Regiment 15000 von Antwerpen her durchgebrochene Belgier und Engländer tapfer aufgehalten, bis deutsche Verstärkungen den Feind zum Rückzug zwangen. Lange Reihen furchtbar zerschossener Häuser, schnell aufgeworfene Schützengräben und an der Straße, an der Station und mitten im Rübenfeld pietätvoll von den Kameraden geschmückte deutsche Soldatengräber mit rohen Holzkreuzen. An einem ein Koppelriemen mit Säbeltasche als einziger Schmuck. – –

Gents bauliche Schönheiten konnten wir natürlich nicht auskosten, aber in dem mächtigen St. Bavo Dom mit seinem wunderherrlichen Chor hat wohl jeder andachtsvoll gestanden, hat das prächtige Rathaus bewundert und die großen Hafenanlagen mit den fast 10 Kilometer langen Ladeplätzen und riesenhaften Docks durchwandert. Das malerischste Eckchen Gents, der herrliche Quai au Herbes, wo reizvolle mittelalterliche Giebel in die vorüberfließenden Fluten schauen und die Möven spielen, ist von unvergeßlicher Schönheit umwoben. Vieles konnte der einfache Soldat nicht beschauen: „Genehmigung der Kommandantur!", „Nur für Offiziere!" verwehrten den Eintritt. Aber auch ohne das genug des Schönen, übergenug!


  1. Kwatrecht, ca. 13 km östlich Gent.

Personen: Neuhaus, Wilhelm
Orte: Antwerpen · Gent · Hersfeld · Kwatrecht
Sachbegriffe: 1. Reserve-Regiment · 2. Reserve-Regiment · Altar · Granaten · Militär · Patriotismus · Schlachtfeld · Soldatenfriedhof
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Neuhaus, Landsturm-Infanterie-Bataillon Hersfeld, 1914-1915, Abschnitt 8: Beschreibung erster Eindrücke von Stadtbild und Bevölkerung“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/21-13> (aufgerufen am 07.05.2024)