Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Karl Wilhelm von Meister, Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Wiesbaden an den Kaiser, 1914-1918

Abschnitt 23: Bericht vom 23. April 1918 (5)

[1124-1126] Die wichtigsten gewerblichen Erwerbszweige. Der Weinbau und die Kurindustrie. Gestiegenes Soll der Einkommensteuer

Die Industrie hatte im vergangenen Winter schwer unter erheblichem Kohlenmangel zu leiden. Manche große Betriebe mußten wochenlang feiern auch fehlten infolge von Verkehrsstockungen zuweilen die Rohstoffe und Halbfabrikate. Nach wie vor steht die Industrie ganz überwiegend im Zeichen des Krieges. Doch stellen sich einzelne Industriezweige bereits auf den Friedensbedarf ein. Im Lahn- und Dillgebiet ist neben dem mit äußerster Anstrengung betriebenen Eisenerzbergbau der seit etwa 30 Jahren stilliegende Phophoritbergbau wieder aufgelebt, um den Bedarf der Munitionsindustrie an Phosphor [und] dem der Landwirtschaft an phosphorhaltigen Düngemitteln Rechnung zu tragen. Die Eisenindustrie des Dillgebietes versorgt die Bevölkerung mit eisernen Kesseln und Küchengeschirr.

Der keramischen Industrie des Westerwaldes, die für ihre kunstgewerblichen Erzeugnisse keinen Absatz mehr findet, bietet sich lohnender Erwerb infolge des großen Bedarfs an Eimachtöpfen und Konservenbüchsen. Die Schamotteindustrie ist reichlich versorgt mit Aufträgen auf feuer- und säurefeste Erzeugnisse für die Hütten- und chemische Industrie. Die Tonlager des Westerwaldes haben infolgedessen eine erhebliche Wertsteigerung erfahren. In den Basaltbrüchen des Westerwaldes, in denen zahlreiche Kriegsgefangene beschäftigt sind, wird fast ausschließlich Schotter zu Straßen­ und Eisenbahnbau für die Heeresverwaltung hergestellt.

In der Maschinenindustrie wirkt der große Mangel an Facharbeitern, deren Löhne sich zwischen 10 und 18 M. täglich bewegen, erheblich verzögernd auf die Erledigung der zahlreichen Aufträge. Die leistungsfähigsten Werke haben die Bearbeitung von Geschossen aufgegeben und sind zu schwierigeren Arbeiten - Herstellung von Torpedos, Flugzeug- und Unterseebootsteilen - übergegangen. [1125] In noch weiterem Maße unmittelbar beteiligt an der Herstellung von Heeresbedarf ist die chemische Großindustrie, die neben der Fabrikation von Sprengstoffen, Gaskampfstoffen sowie der Füllung von Geschossen in großem Umfang die Herstellung von künstlichem Salpeter, neuerdings auch die Fabrikation von Zwischenprodukten für die Gewinnung von synthetischem Gummi aufgenommen hat. Leider wurde im November vorigen Jahres ein Werk der chemischen Großindustrie, die chemische Fabrik "Griesheim­ Elektron" von einer schweren Explosion in der Sprengstoffabteilung betroffen. Sie kostete glücklicherweise zwar nur 3 Menschen das Leben, verursachte aber einen Sachschaden von mehreren Millionen. Dank dem tatkräftigen Eingreifen der Militär- und Zivilbehörden konnten die Wiederherstellungsarbeiten so beschleunigt werden, daß wenigstens in den durch die Explosion in Mitleidenschaft gezogenen Nachbarbetrieben nach wenigen Wochen die Fabrikation wieder aufgenommen werden konnte. Das Verhalten der Arbeiter bei der Explosion war musterhaft, es legte Zeugnis ab von außerordentlicher Pflichttreue und Unerschrockenheit.

Die Zahl der in den industriellen Betrieben beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen betrug ohne die im Bergbau tätigen Ende vorigen Jahres 123.500 gegen 126.000 im letzten Jahre vor dem Kriege. Die Zahl der Arbeiterinnen ist von 21.200 auf 42 .900 gestiegen, während die Zahl der Arbeiter um 24.200 abgenommen hat. Das Angebot an männlichen Arbeitskräften deckte zu keiner Zeit die Nachfrage. Ohne die regelnde und ausgleichende Wirkung des Hilfsdienstgesetzes wäre es nicht möglich gewesen, der Industrie die nötigen Arbeitskräfte zuzuführen.

Die Weinernte von 1917 ist gut ausgefallen. Sowohl nach Menge wie nach Beschaffenheit erhebt sich der 1917er Wein bedeutend über die Durchschnittsjahre. Da gleichzeitig die Weinpreise weiter gestiegen sind und sogar bei einfachen Weinen eine noch vor Jahresfrist für unmöglich gehaltene Höhe erreicht haben, hat sich die wirtschaftliche Lage der Weinbauern weiter gehoben. Erhebliche Beunruhigung hatte bei den Weingutbesitzern und Winzern des Rheingaues Anfang März d. Js. der Versuch des Kriegswucheramtes hervorgerufen, auf die Preisgestaltung des Weines einzuwirken. Die hiermit im Zusammenhang stehenden Maßnahmen einiger zu den Weinversteigerungen entsandter Beamten des Kriegswucheramtes (Beschlagnahme von Weinen bei einzelnen Besitzern) haben zu einer Vorstellung des Rheingauer Weinbauvereins und der Vereinigung Rheingauer Weingutsbesitzer an den Herrn Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten geführt, in der ausgeführt wird, daß die augenblicklichen Preise in Anbetracht der ganz außerordentlich gestiegenen Erzeugungskosten und der Eigenschaft des Rheingauer Weines als Edelweines verhältnismäßig nicht zu hoch seien. Inzwischen ist die Beschlagnahme der Weine durch Beschluß des hiesigen Landgerichts wieder aufgehoben worden. Die Reben sind gut durch den Winter gekommen.

Die für den Regierungsbezirk Wiesbaden bedeutsame Kurindustrie leidet nach wie vor sehr unter den Schwierigkeiten der Lebensmittelversorgung. Sollte in Wiesbaden die Bundesratsverordnung gegen den Schleichhandel, ohne daß gleichzeitig ganz erhebliche Sonderzuweisungen zur Aufrechterhaltung des Ortes als Heilbad erfolgen, mit aller Strenge durchgeführt werden müssen, so wäre nicht nur Wiesbaden, sondern die Allgemeinheit schwer geschädigt. Gutem Vernehmen nach bedenkt die Großherzoglich Hessische Regierung ihr [1126] Heilbad Bad Nauheim mit großen Mengen von Lebensmitteln. Dem Herrn Staatskommissar habe ich in diesem Sinne Vortrag gehalten.

Das Einkommensteuer-Veranlagungs-Soll im Regierungsbezirk Wiesbaden (ohne Berücksichtigung der später eingetretenen Zu- und Abgänge durch Zuzug, Herabsetzung im Rechtsmittelverfahren usw. und ohne die Steuerzuschläge) beträgt für 1917 24.234.061 M. gegen 22.185.748 M. im Jahre 1916, ergibt also ein Mehr von 2.548.313 Mark.


Personen: Meister, Karl Wilhelm von
Orte: Bad Nauheim · Griesheim · Wiesbaden
Sachbegriffe: Arbeitsunfälle · Bergbau · Chemische Fabrik Griesheim-Elektron · Düngemittelherstellung · Heilbäder · Hilfsdienstgesetze · Industrie · Kriegsgefangene · Kunsthandwerk · Maschinenbauindustrie · Munitionsindustrie · Rohstoffversorgung · Sprengstoffherstellung · Steuer · Weinbau
Empfohlene Zitierweise: „Karl Wilhelm von Meister, Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Wiesbaden an den Kaiser, 1914-1918, Abschnitt 37: Bericht vom 23. April 1918 (5)“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/32-23> (aufgerufen am 02.05.2024)