Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Klaus Wiedemann, Der Erste Weltkrieg aus der Sicht eines Kasseler Oberschülers, 1914-1918

Abschnitt 44: Besuch Berlins während des Krieges

[85-86] [S. 85]
Besuch Berlins während des Krieges.

In den Sommerferien 1915 habe ich acht Tage in Berlin verbracht, um einmal einen richtigen Begriff von Berlin zu bekommen. Ich hatte in diesen paar Tagen genügend Gelegenheit Berlin richtig auszusehen. Als ich schon auf dem Anhalter Bahnhof1ankam, fiel mir gleich das dortige Eisenbahn- und Postpersonal auf. Statt der Eisenbahnschaffner begegnete ich einigen Schaffnerinnen. Auch die Postbeamten waren größtenteils durch Fräuleins vertreten. Damit sie zu erkennen waren, trugen sie eine Postmütze und am linken Arm eine Binde. Auch an dem Bahndurchgang saßen Frauen, die ebenfalls eine Eisenbahnermütze trugen. Als ich nun aus dem Bahnhof kam, fiel es mir auf, daß nur einige Automobile und Droschken auf dem Bahnhofsvorplatz standen. Mein Onkel sagte mir, daß die meisten Automobile der Militärverwal- [S. 86] tung zur Verfügung gestellt seien. Es fiel mir auch sofort auf, daß an den Straßenbahnen Frauen tätig waren, die an Stelle ihrer Männer den Dienst versehen mußten. Wo man sich in Berlin befand, konnte man merken, das es jetzt Krieg ist. Vor den Lebensmittelläden standen die Leute bis auf die Straße. Schutzleute mußten oft für Ruhe sorgen. Besonders war dieser Andrang bei Butter und Fleisch der Fall. In den großen Kaffees und Restaurants war ja zwar immer noch ein reger Betrieb, aber man sah meistens Offiziere und höhere Soldaten mit ihren Damen. Auf den Straßen und Plätzen wurde man alle paar Schritt angehalten, Extrablätter oder Zeitungen zu kaufen. In den Museen, Theater und sonstigen Belustigungsräumen konnte man viel Verwundete sehen, die sich oft an Krücken fortbewegten. Auch sah man öfters ausziehende Truppen, die mit Musik an den Bahnhof gebracht wurden.

Aber auch die Berliner Küche hatte durch den Krieg viel zu leiden. Das viele Fleisch gab es nicht mehr. Ebenso fehlte es am Brot und Kartoffeln. So ist die Berliner Hausfrau gezwungen, sehr haushälterisch mit ihren Nahrungsmitteln umzugehen. Doch durch die gleichmäßige Verteilung des Magistrat wird die Bevölkerung Berlins während der Dauer des Krieges durchhalten bis wieder eine bessere Zeit kommt.


  1. früher ein Fernbahnhof, heute nur noch unterirdischer S-Bahnhof; Gebäudereste erhalten

Personen: Wiedemann, Klaus
Orte: Berlin · Anhalter Bahnhof, Berlin
Sachbegriffe: Eisenbahnpersonal · Postbeamtinnen · Frau · Schaffnerinnen · Eisenbahnerinnen · Militärverwaltung · Schutzpolizei · Verwundete · Hausfrauen · Magistrat · Offiziere · Soldaten
Empfohlene Zitierweise: „Klaus Wiedemann, Der Erste Weltkrieg aus der Sicht eines Kasseler Oberschülers, 1914-1918, Abschnitt 44: Besuch Berlins während des Krieges“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/13-44> (aufgerufen am 04.05.2024)