Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Karl Spieß, Die Mobilmachung in Biedenkopf und die Kriegsmonate bis März 1916

Abschnitt 14: Abschnitt 14

[Sp. 248-249]
Am Sonntag, dem 20. September endlich wird das Lazarett in Wilhelmshütte belegt. In der Nacht mit dem Zug 4 Uhr 15 treffen 40 verwundete aus der Richtung von Marburg ein und die Tätigkeit der Sanitätskolonne und des Pflegerpersonals nimmt ihren Anfang. Direktor Dr. Hecker hatte sofort nach der Mobilmachung das Wohlfahrtsgebäude des Hüttenwerks unentgeltlich zur Verfügung gestellt und Dr. Ledeganck sich uneigennützig bereit erklärt, die Leitung des Hilfslazaretts zu übernehmen. Beiden Herren gebührt dafür uneingeschränkte Anerkennung. Das Gebäude eignet sich für die ihm zugewiesenen Zwecke ganze vortrefflich, ja, man wähnt, es sei eigens für Lazarettzwecke erbaut worden. Es fehlt an nichts. Ein großer Krankensaal mit 28 Betten, zwei kleinere Säle für schwerer Verwundete mit 12 Betten, ein geräumiger Versammlungs-(Tages-)raum, in dem auch die Mahlzeiten eingenommen werden, dann das Zimmer des Arztes mit Fernsprechanschluß, die Schlafräume der Schwestern, im Erdgeschoß Operations-, Wasch- und Desinfektionsraum, Waschküche und Vorratskeller. Überall findet sich elektrische Beleuchtung und Zentralheizung vor, überall Luft und Licht. Auf den Tischchen, die neben den Krankenbetten stehen, erblicken wir für jeden Soldaten ein Blumensträußchen, im Tagesraum , in dem sich bequeme Liegestühle vorfinden, hübsche Wandbilder, Schreibgelegenheit und reichlichen Lesestoff. Die Verwundeten, welche die zum größeren Teil vom Frauenverein gefertigte Lazarettkleidung angelegt haben, tragen meist einen Arm in der Binde, andere haben den Kopf verbunden oder zeigen durch ihren hinkenden Gang, daß sie am Bei oder Fuß Schaden genommen haben. Aber fast durchweg sind sie munter und guter Dinge und lassen sich ihre Zigarre schmecken. Sie sind auch zugängig und erzählen von ihren Kriegserlebnissen, von Mühsal und Beschwerden von Kämpfen und Entbehrungen aller Art. Viele haben von Anbeginn des Krieges kein Bettlager mehr gehabt, sie haben wochenlang auf der Erde, im Schützengraben oder Biwak genächtigt und ebenso lange sich weder der Kleider noch der Stiefel entledigen können. Auch der Hunger hat zeitweise wehe getan und, um ihn zu stillen, haben mitunter die Rüben des Feldes herhalten müssen; doch, wie gesagt, das alles hat den Kriegern den Humor nicht genommen und ihren kameradschaftlichen Geist nicht gestört, mit Ungeduld warten sie auf den Tag, an dem sie gesund wieder hinausziehen und „Rache“ nehmen können für die Kugeln, die man ihnen beigebracht. Vorläufig sind die Vaterlandsverteidiger in guter Pflege; der Arzt, die Schwestern und Helferinnen und unsere rührigen Sanitäter, die sich in den Nachtdienst teilen, wenden den Kranken ihre ganze Sorge zu; die Kost ist vorzüglich und an Unterhaltung fehlt es nicht. Da viele der Verwundeten in den Nachbarorten zu Hause sind, so kommt häufig Besuch von lieben Angehörigen und täglich finden sich Biedenköpfer ein, um sich die Lazaretteinrichtung und auch die Krieger anzusehen. Die Städter, so heißt es, werden sich ihrer Pflege auch demnächst widmen müssen. Und richtig: Ende des Monats September werden, um Andern Platz zu machen, einige der Genesung nahen Soldaten der Privatpflege überwiesen, sie kommen nach Biedenkopf und da bietet ihre Unterbringung keine Schwierigkeiten. Alle wollen sie Verwundete ins Haus haben, um sie pflegen zu können, so gut und so liebevoll wie man das eigne Kind, den Gatten oder Bruder pflegen würde, der draußen im Feld steht. Und wie man diese Feldgrauen mit Liebe und Sorgfalt umgibt, so wird man sie Alle pflegen, die noch kommen sollen. Es wird [Sp. 249] ihnen an nichts mangeln, sie sollen nicht merken, dass der Krieg auch unsere Erwerbsverhältnisse beeinträchtigt hat und mancherlei Sorge die Herzen bedrückt.


Empfohlene Zitierweise: „Karl Spieß, Die Mobilmachung in Biedenkopf und die Kriegsmonate bis März 1916, Abschnitt 14: Abschnitt 14“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/1-14> (aufgerufen am 15.05.2024)