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Zwangsräumung der von Obdachlosen besetzten Belgiersiedlung in Kassel, 6. Juli 1971

Auf Anweisung des Bundesvermögensamtes als rechtmäßigem Eigentümer wird in Kassel die von Bewohnern einer Obdachlosen-Siedlung („Lettenlager“) besetzte Belgiersiedlung im Ortsteil Wehlheiden von der Polizei zwangsgeräumt. Zuvor hatten am 6. Mai etwa 30 Studenten sechs leerstehende Häuser der in den 1950er Jahren im Stil einer Reihenhaussiedlung als Wohnsitz für die Familien der in Kassel stationierten belgischen Truppen errichteten Anlage besetzt, um dagegen zu protestieren, dass nach dem Abzug der belgischen Garnison im Herbst 1970 in diesem Viertel fast hundert Häuser leerstehen. Ursprünglich zur Weitervermietung an Bundeswehrangehörige gedacht, erklärte sich daraufhin das Bundesvermögensamt als neuer Eigentümer der Liegenschaften damit einverstanden, die Objekte zur Einrichtung von sozialem Wohnraum der Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft der Stadt Kassel (GWG) zu überlassen. Nach kurzfristigem Rückzug dieser Zusage besetzten Anfang Juli etwa 250 Bewohner der als „Lettenlager“ bekannten Obdachlosen-Siedlung im Stadtteil Forstfeld (im Osten von Kassel zwischen den Stadtteilen Bettenhausen und Waldau gelegen) 32 Häuser der Belgiersiedlung um auf ihre menschenunwürdige Unterbringung aufmerksam zu machen, darunter zahlreiche Familien mit Kindern, Lehrlinge und Schüler.

Die zu Beginn des Zweiten Weltkriegs entlang der Waldkappeler Bahn/Forstbachweg erbauten festen Behelfswohnungen dienten ursprünglich zur Unterbringung von Arbeitern und Lehrlingen der 1940 in das Montan Werk‚Gerätebau GmbH Gebr. Thiel (Lilienthalstraße 150) eingezogenen Junkers Flugzeug- und Motorenwerke AG (Motorenbau Werk Kassel, MWK). Noch während des Krieges wurden hier die aus dem Ausland stammenden Fremd- und Zwangsarbeiter sowie Kriegsgefangenen des Unternehmens einquartiert, darunter insbesondere viele Letten1 – daher die später geläufige Bezeichnung der Siedlung, die 1940 vorläufig als „Bereitschaftslager Forstbachweg 2“ mit 22 Steinbaracken für etwa 1.000 Mann fertig gestellt worden war. Nach Kriegsende unterstand die Fremd- bzw. Zwangsarbeitersiedlung zunächst einer Betreuung durch die UNESCO. Nach der Rückführung oder Auswanderung der im Krieg beschäftigten Ausländer wurde das Lager 1949 als Aufnahmeeinrichtung für die zahlreich nach Hessen strömenden Heimatvertriebenen genutzt.

Die Lebensverhältnisse im „Lettenlager“ inspirieren den Dramatiker Rolf Hochhuth (1931–2020) zu der 1972 uraufgeführten Komödie „Die Hebamme“, die sich kritisch mit den sozialen Missständen in einer (im Stück nicht namentlich genannten) hessischen Stadt auseinandersetzt. Das Theaterstück wird mit der Schauspielerin Inge Meysel (1910–2004) als Hauptdarstellerin 1976 von Wolfgang Spier (1920–2011) verfilmt.
(KU)


  1. 1946 beherbergte das ehemalige „Bereitschaftslager“ 927 Letten und 113 Esten, die bei den alliierten Behörden als Displaced Persons (DP’s) registriert waren.
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Zwangsräumung der von Obdachlosen besetzten Belgiersiedlung in Kassel, 6. Juli 1971“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/4959> (Stand: 6.7.2022)
Ereignisse im Juni 1971 | Juli 1971 | August 1971
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