Contemporary History in Hessen - Data · Facts · Backgrounds
Kernschmelzunfall im amerikanischen Atomkraftwerk Harrisburg entfacht Debatte um Störfallsicherheit in Biblis, 28. März 1979
Am frühen Morgen des 28. März 1979 versagen die beiden Hauptspeisewasserpumpen im Reaktorblock Nummer zwei des Kernkraftwerks „Three Mile Island“ auf der gleichnamigen Insel im Susquehanna River in Pennsylvania bei Harrisburg, USA. Die Verkettung unglücklicher Umstände und technischer Unzulänglichkeiten verursacht dabei einen katastrophalen Kernschmelzunfall. Bei einer routinemäßigen Überprüfung zwei Tage vor dem Unglück hatte man es versäumt, die Ventile von drei Notspeisewasserpumpen wieder zu öffnen. Die Konsequenz ist einer der bis dahin schwersten Atomunfälle in einem kommerziell betriebenen Kernkraftwerk.1 Der Vorfall löst international große Verunsicherung über die Sicherheit von Kernkraftwerken aus und führt zur Einführung neuer Sicherheitsstandards.
Der Störfall entfacht wenige Tage nach dem Unglück ebenfalls erneut die Diskussion um die Sicherheit des Kernkraftwerks Biblis in Südhessen. Genauso wie im Unglücksmeiler in Harrisburg erzeugen in Biblis Druckwasserreaktoren die Wärme für die Stromerzeugung. Die hessische Genehmigungsbehörde weist darauf hin, dass das in Biblis angewandte technische System eines deutschen Herstellers grundsätzlich höhere Sicherheit gewährleiste. Im Gegensatz zu der havarierten Anlage in Harrisburg werde das vom Reaktor innerhalb des sogenannten Primärkreislaufs erhitzte Wasser von einem vierfach ausgestatteten Hauptkühlmittel unterhalb der Siedetemperatur gehalten. Der Unglücksreaktor von Harrisburg besitze aber nur zwei solcher Kühlkreisläufe, was im Störfall gegenüber dem US-Meiler zwei zusätzliche Kühlreserven bedeute.
In Harrisburg schalteten sich am 28. März etwa um 4 Uhr morgens zwei Kühlpumpen im nicht mit radioaktiven Stoffen kontaminierten „Sekundärkreislauf“ (dessen Wasser über das erhitzte und durch Druck am Sieden gehinderte Wasser des Primärkreislaufs zum Verdampfen gebracht wird, und über eine Dampfturbine und einen angeschlossenen Generator elektrischer Strom erzeugt) ab. Die Unterbrechung des Kühlkreislaufs, der auch nach dem Abschalten des Reaktors aufgrund der Nachzerfallswärme des nuklearen Spaltprozesses unverzichtbar bleibt, führte zusammen mit einem defekten Ventil, über das Kühlmittel entweichen konnte, zu einem dramatischen Kühlmittelverlust, der zunächst unbemerkt blieb und nicht durch das Notfall- und Reservesystem aufgefangen wurde, weil die Wasserzufuhr durch fälschlicherweise verschlossene Ventile unterblieb.
Der Kernschmelzunfall in Block 2 des im US-Bundesstaat Pennsylvania gelegenen Atomkraftwerks (engl. Three Mile Island Nuclear Generating Station, kurz: TMI) am 28. März 1979 ist einer der bislang ernstesten Störfälle in einer kerntechnischen Anlage.
(KU)
- Der Atomunfall in Harrisburg wird auf der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (International Nuclear Event Scale, kurz: INES) in die Stufe 5: Ernster Unfall (Accident with wider consequences) mit schweren Schäden am Reaktorkern bzw. an den radiologischen Barrieren eingeordnet. Schwerere Auswirkungen besaßen nur die katastrophalen Unglücke der Anlage Majak in der Sowjetunion am 29. September 1957 (sogenannter Kyschtym-Unfall), der Anlage Tschernobyl in der Ukraine am 26. April 1986 und die Unfallserie im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi in Japan vom 11. bis 16. März 2011. Vgl. Wikipedia: Internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse (Stand: 23.7.2012). ↑
- Records
- Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.4.1979, S. 2: Das deutsche Kernkraft-System von Biblis erscheint sicherer: Bei einem Störfall ist Handbetrieb unmöglich
- Additional Information
- Gerhard Flaemig, Was in Harrisburg geschah, wäre in Biblis nicht möglich gewesen [Stellungnahme von Kraftwerksfachleuten zu einem Interview von Prof. K. Bechert, in dem das Atomkraftwerk Biblis als „noch unsicherer“ bezeichnet worden war], in: Atom und Strom, hrsg. von d. Vereinigung Deutscher Elektrizitätswerke, VDEW, Frankfurt a. M., Bd. 25 (1979), H. 5, S. 133-134
- Der Bundesminister des Innern, Referat Öffentlichkeitsarbeit (hrsg. Körperschaft), Harrisburg-Bericht: Bewertung des Störfalles im Kernkraftwerk Harrisburg; 2. Zwischenbericht für den Innenausschuß des Deutschen Bundestages, Bonn, 1979
- United States / Commission on the Accident at Three Mile Island (hrsg. Körperschaft): Report of the president's Commission on the accident at Three Mile Island: the need for change: The legacy of TMI, October 1979 Washington, D.C., New York [u.a.] 1979
- United States / Commission on the Accident at Three Mile Island (hrsg. Körperschaft) / Jungk, Robert [u. a.]: Der Störfall von Harrisburg: der offizielle Bericht der von Präsident Carter eingesetzten Kommission über den Reaktorunfall auf Three Mile Island, Düsseldorf 1979 [Titel der engl.spr. Originalausgabe: The accident at Three Mile Island; <dt.>].
- Wikipedia: Reaktorunfall im Kernkraftwerk Three Mile Island (eingesehen am 28.3.2022)
- Hebis-Klassifikation
- 543624, Kernkraftwerk
- Hebis-Schlagwort
- Störfall
; Harrisburg; Biblis; Kernkraftwerk - Recommended Citation
- „Kernschmelzunfall im amerikanischen Atomkraftwerk Harrisburg entfacht Debatte um Störfallsicherheit in Biblis, 28. März 1979“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/subjects/idrec/sn/edb/id/4620> (Stand: 28.3.2022)
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