Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Otto Merkel, Geschichte der Familie Merkel 1912-1919

Abschnitt 56: Vorrücken über die Warthe

[142-143] Ein heller kalter Novembertag, der 20. November, ein Freitag, brach an, als es im Zuchthaus allmählich lebendig wurde. Ein irgendwo aufgefundenes Holzgefäß, scheinbar war es ein Salzfäßchen gewesen, diente der körperlichen Reinigung, die jedoch infolge des mangelhaften Toilettenapparats nicht ganz vollkommen ausfallen konnte. Im Kochgeschirrdeckel wurde etwas Kaffee gekocht und ein Stück Kommißbrot dazu gekaut. So hielt man sich zum Abmarsch bereit; Da kam der Befehl: „Erst Mittagessen kochen, da der Wartaübergang noch nicht fertig ist;“ Also dann die großen Kessel herbei! Auf dem Hofe brannten die Feuer, und die Korporalschaften empfingen am Lebensmittelwagen ihre Erbsen und die entsprechenden Fleischportionen. Bald brodelte in allen Kesseln die Erbsensuppe und wer nicht mit dem Zusammenholen und Zerkleinern des Holzes beschäftigt war, stand wenigstens um den Kessel und freute sich auf das verschwenderische Mahl.

Der Korporalschaftskoch rührte mit einem großen Löffel, damit die Suppe nicht anbrennen (konnte) oder fischte ein Stück Fleisch heraus, um mit den Fingern den Grad der Weichheit festzustellen. Dass man nach jedem Griff den Zeigefinger und Daumen in Form von 2 schwarzen Flecken an dem betreffenden Kleidungsstück bemerkte, wurde zwar beobachtet, aber für selbstverständlich gehalten, und ruhig sah man die also gezeichneten Portionen wieder in der brodelnden Brühe versinken; „Noch eine halbe Stunde!“ lautete nach einer neuen Druckprobe das Urteil des Löffelmanns; Da, was gibt’s? „Sofort abrücken!“ „Bagage laden!“ „In 10 Minuten steht die Kompagnie angetreten!“ Was nun? Ich was „Fleischbrocken heraus, Erbsensuppe fortschütten!“ So fischte dann der Koch schnell die „Spatzen“ aus der Brühe, und einer nach dem andern schob mit seiner Beute, die in den bloßen Fingern ganz unangenehm brannte, ab. Wohl gab es einige ganz Kühne oder sagen wir, ganz Hungrige, die auch den Kampf mit den Erbsen aufnehmen wollten, doch gaben sie bald auf. Ohne Gefährdung der Zähne war keine Aussicht auf Erfolg vorhanden, und nach 5 Minuten floß die Erbsensuppe für 250 Mann im Kanalgraben.

Noch waren die 10 Minuten nicht um, da standen die Korporalschaften bereit. Die Bagagemannschaften waren am Wagenpacken, und nach einer Viertelstunde kroch die Kompagnie durch die große Mauerbresche hinaus ins Wartatal hinunter, dem Feind entgegen. Unterhalb des Städtchens Sieradz fließt in nordwestlicher Richtung die [S. 143] Warte vorbei. Zwei Arme waren zu überschreiten. Der Übergang über den ersten schmalen Arm war fertig, indem etwas links von der Straße ein Bohlenbelag auf eingelassenen Pfosten hergestellt war, sodass selbst Fuhrwerk und Artillerie die Stelle passieren konnten. Die zerstörte Brücke im Zuge des erhöhten Straßendammes hatte man liegen gelassen. Als wir die Insel zwischen den 2 Wartearmen betreten hatten, kam das Kommando: „Halt! Rechts von der Straße die Gewehre zusammensetzen!“ Die Notbrücke über die breitere Hälfte des Stromes war noch nicht fertig, wir waren aber trotzdem hier aufgestellt, um einen etwaigen Überfall auf die Brückenbauarbeiter abzuwehren. Das dauerte nun bis 2 Uhr.

Es war bitter kalt und zugig in dem offenen Tal und nur durch fortwährendes Hin – und Hergehen konnte man sich den härtesten Frost vom Leibe halten. Dabei brummte bereits der Magen, denn die Erbsensuppe, die zu so frohen Hoffnungen berechtigt hatte, hatte ja ihren Lebenszweck verfehlt. Immerhin hatten wir es noch besser als die Fuhrleute, die oben auf dem hohen Straßendamm die Balken und Bohlen für die Pioniere herbei fuhren und auf ihren Wagen noch mehr froren als wir, die wir hinter dem Straßendamm doch etwas Windschutz hatten. So blieb denn auch die Stimmung trotz allem munter.


Recommended Citation: „Otto Merkel, Geschichte der Familie Merkel 1912-1919, Abschnitt 56: Vorrücken über die Warthe“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/5-56> (aufgerufen am 26.04.2024)