Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Julikrise und Mobilmachungstage in der Darmstädter Zeitung, 1914

Abschnitt 4: 26.7.1914: Spannung in Darmstadt überall spürbar


Die Entscheidungsstunden. Am Samstag nachmittag um 6 Uhr war die Frist für Oesterreichs Ultimatum an Serbien abgelaufen. Wie das Ereignis alle Interessen auf den einen Punkt unserer Staatspolitik in kürzester Zeit konzentrierte, und in welchem Maße man sich seiner Tragweite und Bedeutung und seines Ernstes für uns Alle bewußt war, das zeigte das Bild, das sich um jene Zeit in den Hauptverkehrsstraßen, besonders an Telegrammausgabestellen und Zeitungsbüros, abspielte. Eine ungeheuere wogende Menschenmenge, die den Arbeitstag kaum hinter sich hatte, konnte sich nun in die brennenden Fragen vertiefen. Was wird kommen? Welchen Ausgang nimmt die zugespitzte Lage der Dinge? In diesen Fragen lag – und liegt, wie wir wissen, so unendlich viel Bedeutungsvolles beschlossen, daß die überall bemerkbare Spannung nur zu sehr begreiflich ist. Bis in die späten Nachmittagsstunden hinein war die Rheinstraße am Samstag abend ungewöhnlich belebt von Passanten; alle wollten die nächsten Depeschen so bald als möglich in Händen haben, und vor der Druckerei Wittich verursachte der Hunger nach Extrablättern fast Verkehrsstörungen. Wer die Szenen beobachtete, konnte untrüglich feststellen, daß etwas ganz Besonderes vorging, und daß kein Herz da gleichgültig war. Ein Sturm erhob sich jedesmal, wenn die Laufburschen mit ihren Extrablättern die Reihen durchliefen; selbst in den Cafés und Restaurants wurden die Meldungen verteilt; eine elektrische Spannung lag überall gleichsam in der Luft. Doch vermochte sich das Gefühl für die Lage der Dinge immerhin nicht in spontaner Begeisterung auszulösen, wie es an anderen Orten gelang. Hie und da spielten die Cafékapellen wohl patriotische Lieder, auch hin und wieder sang das Publikum mit. Im allgemeinen jedoch herrschte mehr ein still zuwartender Ton gegenüber den Ereignissen vor. Man referierte und diskutierte mehr und hielt sich in nüchterner Sachlichkeit. Einstimmig waren aber die Sympathien für Oesterreich-Ungarn und seine kraftvolle Haltung. Am Sonntag, an dem man sich schon viel zuversichtlicher der Kriegsgefahr gegenüber verhielt, herrschte im Ganzen freilich das gleiche Leben allgemeiner Interessiertheit. Dennoch war deutlich zu fühlen: es war Sonntag; die Gemütlichkeit war noch nicht abhanden gekommen. Die Cafés waren dicht besetzt; aber man besprach sich ruhig und zuversichtlich, oder las die Zeitungen. Möge die Zuversichtlichkeit unserer Politik gegenüber in unserem Volke erhalten bleiben. Das ist der beste Maßstab für das Bewußtsein, daß wir genau wissen, was in jedem Falle unsere Pflicht ist: Kopf und Herz nicht zu verlieren.

[Darmstädter Zeitung vom 26. Juli 1914]


Places: Österreich · Serbien · Darmstadt
Keywords: Julikrise · Zeitungen · Darmstädter Zeitung · Extrablätter · Musikkapellen
Recommended Citation: „Julikrise und Mobilmachungstage in der Darmstädter Zeitung, 1914, Abschnitt 4: 26.7.1914: Spannung in Darmstadt überall spürbar“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/37-4> (aufgerufen am 19.04.2024)