Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Percy Graf von Bernstorff, Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Kassel an den Kaiser, 1917-1918

Abschnitt 7: Bericht vom 27. April 1917 (1)

[954] Kassel, den 27. April 1917

In den letzten Monaten waren es hauptsächlich die Eröffnung des verschärften Kreuzerkrieges und der Ausbruch der Revolution in Rußland, welche die Gemüter der Bevölkerung bewegten. Aus beiden hat sie auf eine schnellere Beendigung des Krieges Hoffnung geschöpft, wenn auch das Hinzukommen eines neuen Feindes1 dämpfend wirkt. Immerhin ist in dieser Hinsicht die Volksstimmung noch zuversichtlich, und mit innigstem Dank und Bewunderung lesen die Daheimgebliebenen die Nachrichten des heldenhaften Standhaltens unserer Heere an der Westfront. Daß die Ereignisse in Rußland nicht ohne Einfluß auf die linksliberalen und sozialdemokratischen Parteien und ihre Ziele für die innere Politik bleiben konnten, liegt auf der Hand.

Eine schwere Belastung der Stimmung war die etwa Mitte Januar eintretende Kohlennot, die sich bis Ende Februar steigerte und zum großen Teil auch noch anhält, ohne große Aussicht auf vollständige Beseitigung. Je härter der Winter auftrat, und je länger er dauerte, wurden die Schwierigkeiten immer größer. In den Industriestädten kamen fortgesetzt Gruppen von Personen auf das Rathaus, um sich über Mangel an Feuerung zu beklagen. Viele Einwohner haben ohne Heizung in ihren Wohnungen ausharren müssen. Die geringeren Leute konnten auch nicht kochen, so daß sie vorzeitig ihre Brotration verzehrten und dann über Mangel hieran klagten. Die Behörden waren hiergegen fast machtlos, da sie auf die Kohlenzufuhren keinen Einfluß hatten und sich darauf beschränken mußten, für eine möglichst gerechte Verteilung der geringen Bestände zu sorgen. Das ist von den Städten des Bezirks mit Erfolg geschehen.

Eine weitere Belastungsprobe auf die Stimmung war die Herabsetzung der Brotration vom 15.d. Mts. ab. Zu den befürchteten Unruhen oder Ausständen ist es aber im hiesigen Bezirk nicht gekommen, die Bevölkerung hat eingesehen, daß auf diesen Wegen die Notstände nicht beseitigt werden können. Es muß auch anerkannt werden, daß die Führer der Gewerkschaften dazu beigetragen haben, das Volk zu beruhigen und darüber aufzuklären, daß die Verkürzung des Brotes notwendig war, um mit den vorhandenen Getreidebeständen auszukommen. Auf der anderen Seite war ja auch die größere Zuteilung von Kartoffeln und Fleisch eine willkommene Erleichterung. Der hiesige Viehhandelsverband hat die größeren Fleischmengen ohne Schwierigkeit und rechtzeitig aufgebracht und hofft, dies auch weiter tun zu können. Ob in den Städten die größere Menge Kartoffeln dauernd wird verabfolgt werden können, läßt sich noch nicht übersehen, es hängt dies davon ab, ob die von der Reichskartoffelstelle festgesetzten Lieferungen auch tatsächlich den Städten zugestellt werden. Die Verkürzung der Brotration trifft gewiß auch die Landbevölkerung hart, zumal dem Selbstversorger die Vergünstigung der Fleischzusatzmenge vorenthalten bleibt.


  1. Der Eintritt der Vereinigten Staaten von Amerika auf der Seite der Entente.

Persons: Bernstorff, Percy Graf von
Places: Russland · USA
Keywords: Oktoberrevolution · Stimmungslage · Parteien · Liberale · Sozialdemokraten · Kohlennot · Kältewinter · Brotversorgung · Gewerkschaften · Kartoffeln · Fleischversorgung · Reichskartoffelstelle
Recommended Citation: „Percy Graf von Bernstorff, Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Kassel an den Kaiser, 1917-1918, Abschnitt 7: Bericht vom 27. April 1917 (1)“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/26-7> (aufgerufen am 29.03.2024)