Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Ernst Ludwig Großherzog von Hessen und bei Rhein, Erinnertes, 1914-1918

Abschnitt 4: Verhältnis zu General Alfred von Kühne

[150-151]
Unter den Menschen, die ich draußen an der Front kennen lernte, hat mir General von Kühne1 den tiefsten Eindruck gemacht. Er hatte die hessische Division, sodaß ich ihn oft sehen konnte. Er ist ein Mann mit einem ganz großen Herzen, der für seine Truppen wirkliche Liebe hatte. Wo es ihm nur möglich war, sorgte er für alle auf das rührendste; bis zu dem einzelnen Manne ging seine Sorge. Dabei war er ein sehr guter Soldat, der die Division ganz vorzüglich führte. Er hatte einen einzigen Sohn2, der, wie der Krieg ausbrach, als Maler in Norwegen weilte. Erst später erfuhr er, daß auch er sich zur Armee gemeldet hatte. Da traf ihn plötzlich die Nachricht, daß derselbe gefallen wäre3. Er wurde ganz still und zog sich von Allem zurück. So sehr lastete dieser Verlust auf ihm, daß seine Herren in großer Sorge um ihn waren. Sie setzten es durch, daß er Urlaub bekam, und sofort zog er an die Stelle, wo der Truppenteil seines Sohnes stand. Vor ihm lag das zerschossene Dorf, in dem derselbe seinen Tod gefunden hatte. Da ist der Vater im schlimmsten Feuer ganz allein, nur mit einem Stock in der Hand, bis in das verlassene Dorf gegangen und fand die Stelle, wo sein Sohn gefallen war. Dann kehrte er so, wie er gekommen war, wieder zurück. Keine Kugel traf ihn. Diese Wallfahrt scheint ihm so geholfen zu haben, daß er sich ganz wiederfand und von Neuem seine Division mit der alten Sicherheit weiterführte.

Viele ganz reiche Stunden habe ich mit diesem so tief kultivierten Manne verbracht. Allein als Sprachen kann er Lateinisch, Griechisch, Italienisch, Französisch und Englisch so gut, daß er alle Bücher in der Muttersprache lesen kann. So z. B. übersetzte er an der Front in seinen freien Stunden Guy de Maupassant ins Deutsche. Sobald wir abends zusammenkamen, richtete sich sehr bald das Gespräch auf die tiefsten Dinge, sodaß wir ganz vergaßen, wo wir eigentlich waren. Als ich einst einen Abend zum Essen im Divisionsstab war, ging es uns beiden wieder so. Wir setzten uns ins Freie wegen der schönen Luft, die anderen blieben im Haus. Nach einiger Zeit kamen die anderen heraus und machten uns klar, daß es Zeit war, zu Bett zu gehen, denn es war inzwischen drei Uhr morgens geworden.

Nicht nur seiner Truppe war er immer gerecht, sondern auch den Einwohnern. Da er so gut französisch konnte, hatten sie zu ihm persönlich das größte Zutrauen. Sobald eine Stadt in der Nähe war, fuhr er hin und holte sich Bonbons. Damit füllte er sich seine Taschen und gab davon, wo er hinkam, den Kindern welche. Es war zu nett zu sehen, wie die Kinder immer zutraulicher zu dem fremden General wurden und ihn ganz als ihren Freund betrachteten.

Es war allgemeine Trauer in der Division, wie er nach der Ostfront versetzt wurde. Ich sehe ihn nur noch selten, er ist aber dann immer derselbe.


  1. Generalleutnant Alfred von Kühne (1853-).
  2. Leutnant Hans Georg von Kühne (1890-1914).
  3. Anm. 185 (E.G.Franz): Längere Gespräche mit Kühne erwähnt das Kriegstagebuch u. a. am 5. und am 27. Februar 1915; Kühnes zweiter Sohn Hans Georg war bereits am 28. August 1914 als Leutnant bei Mouslains nördlich Peronne gefallen.

Persons: Ernst Ludwig, Hessen und bei Rhein, Großherzog · Kühne, Alfred von · Kühne,Hans Georg von
Places: Norwegen · Mouslains · Peronne
Keywords: Gefallene · Generäle · Leutnante
Recommended Citation: „Ernst Ludwig Großherzog von Hessen und bei Rhein, Erinnertes, 1914-1918, Abschnitt 4: Verhältnis zu General Alfred von Kühne“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/18-4> (aufgerufen am 26.04.2024)