Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Feldpostbriefe und -karten des Einjährig Freiwilligen Richard Weber aus Wächtersbach

Abschnitt 6: 2.9.1914: Feldpostbrief aus St. Pierremont

[3-4] St. Pierremont, 2.9.1914

Liebe Mutter!

Wenn die Dunkelheit hereinbricht und unser Regiment nicht mehr weitermarschieren kann, dann heißt es: Mäntel anziehen, das Regiment begibt sich zur Ruhe! Man legt sich dann an Ort und Stelle vor die Gewehre, entweder auf ein Korn- oder Kartoffelfeld oder direkt an der Chaussee im Graben und freut sich, daß man das Leben mit Gottes Hilfe wiederum einen Tag erhalten hat. Wenn dann die Sterne nachts von Frankreichs Himmel herniederleuchten und ich das Sternbild vom goldenen Wagen (großer Bär) ins Auge fasse, derselbe Stern, der auch über meiner Heimat funkelt, der auch von Wächtersbach aus zu sehen ist und auch über Eurem Hause steht, dann erfaßt mich Wehmut und man sehnt sich zurück, dorthin wo Ruhe und Friede herrscht. Aber ich kann vorläufig nicht nach Hause, hab‘ keine Heimat mehr, meine Heimat ist das Vaterland. So wie ich denke, denkt jeder Soldat, er kann es vielleicht nur nicht so ausdrücken, aber er fühlt so. Jeder ist das Kämpfen, das Morden, das Verbinden, das Grabschaufeln und Freund und Feind in ein Grab Zusammentragen so müde, daß sich viele den Tod und die Kugel herbeiwünschen, wenn sie nur nicht die qualvollen Knochenzersplitterungen fürchteten, bei denen sie [S. 4] stunden- und tagelang hilflos daliegen. Bei Euch lest Ihr sicher, daß die Verpflegung der Truppen gut sei. Das trifft vielleicht für die zu, die in zweiter Linie kämpfen. Wir haben jetzt den fünften Tag, an dem wir weiter nichts haben als morgens um 6 Uhr einen halben Becher schwarzen Kaffee und vor dem Schlafengehen Suppe aus der Feldküche. Oft ist aber der Feind so nah heran, daß selbst abends die Feldküche nicht heranfahren kann. Unsere Truppe ist dadurch ungeheuer geschwächt und schon nach fünf bis sechs Kilometern Marsch fallen die ersten vor Schwäche aus der Kolonne heraus in den Graben. Soviel uns gesagt wird, sind jetzt in Bezug auf Verpflegung die schlimmsten Zeiten überstanden und die Nahrungszufuhr wird jetzt reichlicher, da der Feind von unseren Truppen - besonders vom Rgt. 168 - gänzlich zurückgeschlagen ist. Wir folgen jetzt immer weiter, damit der Ring, der die französischen Truppen umgibt, immer enger wird und so sich der Feind ergeben muß. Hoffen wir, daß es gelingt, zum Wohle der noch lebenden Menschheit. Nur einen Wunsch habe ich, schreibt mir doch öfter eine Karte oder einen Brief. Sind schon Tote oder Verwundete von Wächtersbach gemeldet? Dann: schickt mir doch etwas Schokolade. Geld, Wurst, Wäsche nicht nötig! Sonst nichts Neues! Bin unverletzt! Ganz herzlichen Gruß Richard.
Auf Wiedersehen
PS. Ich wünschte mir, ich könnte einmal wieder am Tisch in der Küche sitzen und Butterbrot mit Kakao essen!!


Persons: Weber, Richard
Places: Saint Pierremont · Wächtersbach
Keywords: Feldpost · Feldpostbriefe · Infanterie-Regiment Nr. 168 · Heimweh · Hunger · Truppenverpflegung · Gefallene · Verwundete · Schokolade
Recommended Citation: „Feldpostbriefe und -karten des Einjährig Freiwilligen Richard Weber aus Wächtersbach, Abschnitt 6: 2.9.1914: Feldpostbrief aus St. Pierremont“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/175-6> (aufgerufen am 19.04.2024)