Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Feldpostbriefe und -karten des Einjährig Freiwilligen Richard Weber aus Wächtersbach

Abschnitt 4: 31.8.1914: Feldpostbrief von der Front

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31.8.1914

Liebe Mutter und Angehörige!

Ein furchtbar wütender Schrecken ist der Krieg. Wir durchleben zu schlimme Zeiten, die gar nicht aufs Papier zu bringen sind. Fast ein Tag über den anderen stehe ich in heißem Gefecht. Mein Regiment kämpft schon seit dem 15. d. M. in der vordersten Linie, ist also direkt am Feind und muß das Elend haufenweis mitmachen. Ich habe schon von morgens 7 Uhr bis zur Dunkelheit im Gewehrfeuer gelegen: Kochgeschirr, Trinkbecher und Helm sind mir schon durchschossen worden, nur mich hat’s verschont. Oft ist man auch stundenlang dem Granatfeuer ausgesetzt, liegt dann auf einem Plätzchen fest, das Gesicht in die Erde eingebissen und erwartet die Einschüsse der Geschosse, die ganze Scharen zu Brei schlagen und damit einen schnellen aber gräßlich anzusehenden Tod herbeiführen. Da mußt Du Dir in jeder Ecke zu Hause ein Gewitter vorstellen. Indem Blitze einschlagen, gehst Du mit den Augen dann über den Richtplatz und suchst aus den Fetzen Menschenfleisch Deinen treuen Freund oder lieben Vorgesetzten heraus. Wenn dann das Gefecht beendet ist, gehen wir hinaus aufs Schlachtfeld wieder, helfen unseren Brüdern, die verwundet sind, und verbinden dann den Feind in roten Hosen1, der uns in seinen Todesschmerzen die Hand reicht. Wir ihm vergeben.

Du müßtest nur gestern einmal bei uns gewesen sein. Wir hatten uns von 10 Uhr nachts an Abhängen des Waldes einer zweistündigen Ruhe übergeben. Im Walde lagen noch die Verwundeten vom letzten Gefecht. Da kannst Du ein Jammern, Stöhnen, Schreien und Rufen der Halbtoten vernehmen, daß uns das Herz blutet, lauter wie auf einem Viehmarkt der Lärm der Tiere. Sowie es dann etwas hell wurde, gingen wir in den Wald mit Verbandszeug. Da lagen Freund und Feind nebeneinander, zum Teil nur von einem Schuß, andere wieder ganz zerschossen und lebten immer noch. In solch ein brechendes Auge eines sterbenden Kriegers zu sehen, ist schrecklich. Jetzt schneide ich den Armen die ganze Uniform auf und verbinde, wo ich nur kann. Wie schwer ist das! Viele sonst ganz rohe Bauern weinen vor einem so zerrissenen Kamerad. Wir wissen gar nicht, wo wir anfangen sollen. Greift man den zerschossenen Knochen an, dann schreit der Arme ganz wahnsinnig. Sie liegen dann lange in ihrem Blut und die heiße Sonne brennt auf die Wunde. Im größten Fieber liegt der Verwundete und jeder nimmt seinen letzten Trunk Wasser heraus und reicht ihn dem Zerschossenen.

Richard


  1. Zur Uniform der französischen Soldaten gehörte eine rote Rose.

Persons: Weber, Richard
Keywords: Feldpost · Feldpostbriefe · Gewehrfeuer · Granatfeuer · Gefallene · Verwundete · Todesangst · Infanterie-Regiment Nr. 168
Recommended Citation: „Feldpostbriefe und -karten des Einjährig Freiwilligen Richard Weber aus Wächtersbach, Abschnitt 4: 31.8.1914: Feldpostbrief von der Front“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/175-4> (aufgerufen am 26.04.2024)