Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Der erste Kriegsmonat im Offenbacher Abendblatt, August 1914

Abschnitt 2: 1.8.1914: Im Fieber (Öffentliche Spannungen)


Im Fieber.

Zwei schreckliche Tage liegen hinter uns — Tage voller nervenzerrüttender, aufpeitschender Unruhe und Erwartung. Mit einer Frivolität sondergleichen hat die Offenbacher Zeitung durch ihre journalistischen „Glanzleistungen" es verstanden, diese Aufregung unter der Offenbacher Bevölkerung bis ins Maßlose zu steigern. Dieses unerhörte, jedes Verantwortungsgefühls bare Verhalten führte schließlich dazu, daß auf behördliche Anordnung hin die Offenbacher Zeitung am gestrigen Abend ihre Depeschenschaufenster schließen mußte.

Besonders aufregend und zu allerhand törichten Gerüchten Anlaß gebend wirkte auch die nach den für den Kriegszustand maßgebenden Bestimmungen vom Generalkommando angeordnete Beschlagnahme von Feuerwaffen, Patronen, Pulver, Feuerwerkskörpern, Benzin usw. in den hiesigen Eisenhandlungen, Zigarrenläden und Waffengeschäften. Von Laden zu Laden fuhr ein Wagen, begleitet von einem kriegsmäßigen Militärpikett, und holte überall die zu konfiszierenden Waren zusammen. Dazwischendurch kam die unter Trommelschlag erfolgte Bekanntmachung des Kriegszustandes an den Straßenecken. Zugleich wurden die bekannten roten Plakate des Generalkommandos angeschlagen. Auch im Zusammenhange hiermit glaubte die Offenbacher Zeitung es sich leisten zu dürfen, ihr Extrablatt über die Verhängung des Kriegszustandes in der amtlichen roten Farbe herauszugeben und damit den Anschein einer amtlichen Handlung zu erwecken.

Kein Wunder, daß unter solchen Umständen die Aengstlichkeit der Einwohnerschaft zur Kopflosigkeit wurde. Die Lebensmittelgeschäfte wurden geradezu gestürmt und manche Geschäftsleute benutzten die Situation in unerhörter Weise zu Verteuerungen sondergleichen aus, so daß die berechtigte Empörung darüber in teilweise sehr drastischen Formen zum Ausdruck kam. Vor überstürzten Einkäufen kann gar nicht oft genug und eindringlich genug gewarnt werden, sie nützen nur jenen gewissenlosen Geschäftsleuten, die in diesen schlimmen Zeiten immer noch einzig an ihren eigenen Profit denken.

Tiefer Ernst beherrscht unsere gesamte Bevölkerung. Für lärmende Radauveranstaltungen hat niemand mehr Verständnis. Tiefer Ernst paart sich aber mit Würde und mannhafter Entschlossenheit, das Unvermeidliche zu tragen. Besonders in der Arbeiterschaft. Sie ist zu lange durch die Schule der Sozialdemokratie gegangen, um zu wissen, was sie in Stunden der höchsten Gefahr zu tun hat: kaltes Blut halten bis zum letzten Augenblick und Pflichterfüllung selbst dann, wenn diese Pflicht dem eigenen Empfinden nicht entspricht.

So soll's auch bleiben, wenn die Zeit noch schlimmer wird.

[Offenbacher Abendblatt vom 1. August 1914]


Places: Offenbach
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Recommended Citation: „Der erste Kriegsmonat im Offenbacher Abendblatt, August 1914, Abschnitt 2: 1.8.1914: Im Fieber (Öffentliche Spannungen)“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/161-2> (aufgerufen am 20.04.2024)