Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Synagogen in Hessen

Angenrod Karten-Symbol

Gemeinde Alsfeld, Vogelsbergkreis — Von Susanne Gerschlauer
Basic Data | History | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | References | Indices | Recommended Citation
Basic Data

Juden belegt seit

2. Hälfte 17. Jahrhundert

Location

36304 Alsfeld, Ortsteil Angenrod, Judengasse | → Lage anzeigen

Rabbinat

Oberhessen

religiöse Ausrichtung

orthodox

preserved

nein

Jahr des Verlusts

1961

Art des Verlusts

Abbruch

Gedenktafel vorhanden

ja

Weitere Informationen zum Standort

Historical Gazetteer

History

Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts übten die Herren von Wehrda gen. Noding die Ortsherrschaft und niedere Gerichthoheit in Angenrod aus. 1805 ging mit dem Tod des letzten Ortsadeligen von Nodung der Ort an die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt.

Erste Juden sind vermutlich bereits um die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts in Angenrod ansässig. Spätestens in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stieg die Zahl der hier wohnenden Juden erheblich an, als die Fuldaer Fürstäbte die Juden aus ihrem Herrschaftsgebiet vertrieben und die Herren von Wehrda gen. Nodung in Angenrod günstige Ansiedlungsbedingungen boten, da sie sich durch die Schutzgeldzahlungen wirtschaftliche Vorteile versprachen.1

1736 hatte der Ortsherr sechs Doppelhäuser mit insgesamt 12 Wohnungen erbauen lassen, die jeweils drei Räume (inkl. Küche) auf etwa 40 Quadratmetern besaßen. Diese Wohnungen waren für die Angenroder Juden vorgesehen. Das Ensemble wurde gemeinsam mit der 1797 neu erbauten Synagoge sowie der an diese um 1861 angebauten Lehrerwohnung und einem jüdischen Backhaus „Neu-Jerusalem“ genannt.2 1806 verkauften die Herren von Wehrda diese Wohnhäuser an die interessierten jüdischen Familien, die in ihnen lebten.3 Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zahlten 15 Familienoberhäupter Schutzgeld.4 1837 lebten 176 Juden in Angenrod, das so den höchsten Anteil an der Gesamtbevölkerung im Altkreis Alsfeld nachwies. 1861 lebten hier 247 Juden, welches einem Anteil von fast 42 Prozent an der Gesamtbevölkerung (589 Personen) entsprach.5 Zwischen dem ersten und dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wanderten neben vielen christlichen Familien auch 46 meist junge Jüdinnen und Juden aus Angenrod in die USA aus.6 Um die Wende zum 20. Jahrhundert lag der Anteil der jüdischen Angenroder an der Gesamtbevölkerung noch bei ca. 25 Prozent.

Auf die frühe Gründung einer Synagogengemeinde deutet ein Nachweis aus dem Jahr 1650 hin, wonach zwei Mitglieder der jüdischen Gemeinde Angenrod zum Judenkonvent ins ca. 6 Kilometer östlich gelegene Alsfeld zitiert werden.7 Seit 1736 ist in Angenrod eine jüdische Gemeinde belegbar.8 Spätestens seit dem 19. Jahrhundert gehörten die Juden aus dem ca. 4 Kilometer östlich gelegenen Leusel zur jüdischen Gemeinde.9

Um 1806 hatte Gerson Juda das Amt des Vorstandes der Synagogengemeinde inne.10 Um 1843 war Israel Lorsch Vorsteher der Gemeinde.11 Der Vorsitzende vor 1860, Gutkind Rothschild, war auch im Ortsvorstand vertreten.12 Um 1860 hießen die Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde D. Löwenstein, B. Speier und J. Levi, um 1870 hatte M. Rothschild den Vorsitz.13 In den 1930er Jahren war Sally Wertheim der erste Vorsitzende.

Um die Wende zum 19. Jahrhundert verdiente die Familie Rothschild ihren Lebensunterhalt mit – auch überregionalen bis in die USA reichenden – Immobilien- und Geldgeschäften. Die Mehrheit der jüdischen Angenroder lebte vom Handel mit Vieh. Es gab eine Spezerei- und Manufakturwarenhandlung, einen Landproduktehandel, einen Fischhändler sowie drei Gastwirtschaften, die von Juden betrieben wurden.

Lebten 1933 noch 65, waren es schon 1939 nur noch zehn und 1942 nur acht jüdische Angenroder im Ort.14 Viele zogen wegen der erheblichen politischen und sozialen Repressalien innerhalb Deutschlands um, sechs Familien flohen u.a. ins amerikanische Exil.15 1942 wurde die jüdische Gemeinde Angenrod offiziell für aufgelöst erklärt.16 Die dreizehn am 5.2.1942 zwangsweise in einem Wohnhaus in der heutigen Leuseler Straße (Haus Speier) mit weiteren Juden aus der Umgebung zusammengepferchten Angenroder Juden wurden verhaftet und im September 1942 über Sammelstellen in Vernichtungslager deportiert. Niemand von ihnen überlebte.

Betsaal / Synagoge

Bereits um 1667 ist die Nutzung eines Betraumes belegt, dessen Lage im Ort ist nicht überliefert. Vermutlich befand sich der Betraum in einem der Wohnhäuser, in denen Juden lebten.17

1797 ließ die jüdische Gemeinde Angenrod im Bereich der ehemaligen Hintergasse (jetzt Judengasse) am Nordrand des Dorfes eine Synagoge neu erbauen; der Baugrund gehörte den Herren von Wehrda gen. Nodung.18

Das Gebäude im ausschließlich von Juden bewohnten Teils Angenrod hob sich auf dem nach Nordosten hin ansteigenden Gelände deutlich von der es umgebenden Bebauung aus kleinen landwirtschaftlichen Anwesen mit Scheunen und bäuerlichen Fachwerkwohnhäusern ab. Das stattliche, auf einem niedrigen steinernen Sockel errichtete zweigeschossige Fachwerkgebäude besaß einen Grundriss von 13 x 7,50 Metern. Das Satteldach war mit Falzziegeln gedeckt, im Südwesten und Nordosten schloss je ein schiefergedeckter Schopfwalm das Dach. Die Südwestwand war mit regional typischen Holzschindeln verkleidet; alle anderen Gebäudeseiten besaßen Sichtfachwerk. Zum Dorf hin lag der Südwestgiebel mit dem Haupteingang über drei Stufen erhöht. Ein Eisenzaun aus einfachen Stäben mit geschmiedeten Spitzen trennte einen Hof vom Außenbereich ab. Durch ein zweiflügeliges eisernes Tor der gleichen Bauart gelangten die Besucher und Besucherinnen auf den kleinen Vorplatz.

Die dreizonige Fachwerksynagoge war in den westlichen zwei Dritteln in Ständerbauweise errichtet. Klare symmetrische Strukturen bestimmten ihre Erscheinung, bestehend aus dreiviertelwandhohen, Streben, geschosshohen Fensterstielen, Brust- und Kopfriegeln im Untergeschoss und Gurtriegeln im Obergeschoss. Im nordöstlichen Gebäudedrittel lagen auf der Nord- und Südseite Seiteneingänge, die vermutlich über eine Treppe ins Obergeschoss die Frauenempore sowie möglicherweise zusätzliche Räume erschlossen. Hier war das Fachwerk durch Rähm und Schwelle gegliedert, was einen Zwischenboden in diesem Gebäudebereich vermuten lässt.19

In der Mittelachse des Südwestgiebels saß der Haupteingang mit einer zweiflügeligen Zweifüllungstür. Die obere, hochrechteckige Füllung schloss in einem Dreiecksgiebel. Das Tympanon über der Tür zeigte über einer hebräischen Aufschrift drei hölzerne Felder, ebenfalls mit hebräischer Aufschrift. Ein kleiner Vorbau mit Satteldach gewährte dem Haupteingang Wetterschutz; ein metallener Knauf, spitz zulaufend, zierte den Giebel. Flankiert wurde der Eingang von segmentbogigen Rechteckfenstern, die dem Inneren Licht boten. Achsial über dem Haupteingang waren im ersten Obergeschoss zwei nebeneinanderliegende segmentbogige Rechtecksprossenfenster eingebaut. Das Giebeldreieck wurde verziert von einer Fensterrose, deren gläserne Ausschmückung ein sechsblättriges Muster aufwies. Die Giebelspitzen des Synagogendaches bekrönten metallene Aufsätze in Form von Knauf und Spitze, im Südwesten ergänzt durch eine Wetterfahne mit Jahreszahlmotiv, das auf das Erbauungsjahr des Gebäudes (1797) hinweist.

Die Traufwände im Nordwesten und Südosten waren in beiden Geschossen mit je drei hochrechteckigen Sprossenfenstern mit Segmentbogenabschluss ausgestattet. Die baugleichen, aufwendig gebauten Fenster besaßen vier waagerechte und eine achsiale Sprosse. Im obersten Sprossenkreuz war ein hölzerner, verglaster Kreis von ca. sieben Zentimetern Durchmesser eingeschrieben.

Der Nordostgiebel war in drei Bereiche gegliedert. Den Mittleren dominierte das dreibahnige Segmentbogen-Sprossen-Fenster, das das Unter- mit dem Obergeschoss optisch zusammenzog. Das mittlere Fensterteil schloss um einige Zentimeter oberhalb der beiden äußeren und verstärkte so die vertikale Dominanz. Oberhalb der Fenster rahmten die Fensterstiele lange rechteckige weiße Gefache, bevor sie in einem Sturzbalken endeten. In den beiden äußeren Wandbereichen waren auf Höhe des Kniestocks im Obergeschoss je ein kleines quadratisches Fenster eingebaut. Die Fachwerkstruktur des Giebels ähnelte mit dreiviertelwandhohen Streben und annähernd quadratischen Gefachen der der übrigen Wände.

Das nordöstliche Gebäudedrittel besaß im Nordwesten und Südosten je eine einflügelige Eingangstür, die in das vorletzte Gefach eingebaut war. Über die Aufteilung des Gebäudeinneren und die Ausstattung des Gottesdienstsaales liegen keine Informationen vor. Im Oktober 1861 feierte die Dorfgemeinschaft und Besucher aus den Nachbargemeinden nach Abschluss umfangreicher Sanierungsarbeiten und eines Anbaus eine große Wiedereinweihungsfeier in der Synagoge. Im Rahmen der Umgestaltung war die Wohnung des Religionslehrers der jüdischen Gemeinde im Anbau untergebracht worden.20

Während der Pogromnacht 1938 wurde die Synagoge geplündert und innen erheblich beschädigt. Der Thoraschrein wurde zertreten, Fensterscheiben eingeworfen. Im Rahmen der Zwangsarisierung erwarb die politische Gemeinde 1940 das Gebäude vom letzten offiziellen Vertreter der jüdischen Gemeinde, Sally Wertheim. 1945 wurde die Synagoge der JRSO zurückerstattet, die sie an einen Angenroder Privatmann weiterverkaufte. Einige Jahre später verkaufte dieser das Haus an die politische Gemeinde, die es auf Gemeinderatsbeschluss 1961 komplett abreißen ließ und ein Jahr später auf dem Platz ein Gefrierhaus errichtete.

Weitere Einrichtungen

Mikwe

Vermutlich besaß die Synagogengemeinde ursprünglich ein rituelles Tauchbad in einem Privathaus.21 Von 1846 bis zu seinem Abbruch 1851 lag das „Badehaus“ in einem Haus gegenüber der Synagoge22; seit 1851 war die Mikwe in dem auch als Schulhaus genutzten Wohnhaus in der Wuhlsgasse eingerichtet.23

Schule

David Bunfort (1780–1864) war bis um die Mitte des 19. Jahrhunderts Lehrer in Angenrod.24 Anschließend lehrte Meyer Bamberger bis 1870 Religion. Bis zum Neubau der Volksschule um 1880, die von christlichen wie jüdischen Kindern besucht wurde, erhielten die jüdischen Kinder schon vor 1833 ihren Unterricht in einem auch zu Wohnzwecken genutzten Haus in der Wuhlsgasse. Um 1897 unterrichtete der Religionslehrer Eisenberger die jüdischen Kinder.

Cemetery

Der Friedhof der jüdischen Gemeinde Angenrod befindet sich im Westen des Dorfes, heute Flur 1, Flurstück Nr. 212/1. Auf einer Fläche von 1.439 Quadratmetern sind noch 202 Grabsteine vorhanden, doch war der um die Mitte des 19. Jahrhunderts erweiterte Sammelfriedhofs ehemals vermutlich doppelt so groß.25 Der Begräbnisplatz, wahrscheinlich seit Mitte des 18. Jahrhunderts genutzt, diente als Sammelfriedhof für Juden aus Angenrod, Alsfeld, Leusel, Ober-Gleen und Romrod, zeitweise für die Juden aus dem mehr als 30 Kilometer östlich gelegenen Grebenau. Das älteste (erhaltene) Grab stammt aus dem Jahr 1842, im jüngsten Grab wurde der ehemalige Vorsänger, Sally Abt, beerdigt, der im Jahr 1940 verstarb.26

Angenrod, Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen

References

Weblinks

Sources

Bibliography

Illustrations

Indices

Persons

Wehrda gen. Noding, Herren von · Gerson Juda · Israel Lorsch · Rothschild, Gutkind · Löwenstein, D. · Speier, B. · Levi, J. · Rothschild, M.

Places

Alsfeld · USA

Sachbegriffe Geschichte

Pogromnacht

Sachbegriffe Ausstattung

Thoraschreine

Sachbegriffe Architektur

Satteldächer · Falzziegel · Schopfwalme · Holzschindeln · Sichtfachwerk · Ständerbauweise · Gurtriegel · Brustriegel · Kopfriegel · Frauenemporen · Rähme · Schwellen · Tympana · Fensterrosen · Segmentbogenabschlüsse · Gefache · Sturzbalken · Fachwerk

Fußnoten
  1. Stahl, Angenrod 2007, S. 6
  2. Stahl, Angenrod 2007, S. 7 ff.
  3. Verkauf der zu Angenrod für zwölf Judenfamilien erbauten Häuser, 1796–1807, in: HStAD G 31 C, 22 d/1
  4. Stahl, Angenrod 2007, S. 7
  5. Stahl, Angenrod 2007, S. 12 ff.
  6. HStAD R 21 B
  7. Stahl, Angenrod 2007, S. 6 f.
  8. Stahl, Angenrod 2007, S. 6 f.
  9. Ortsartikel Angenrod auf Alemannia Judaica (s. Weblink)
  10. Stahl, Angenrod 2007, S. 10
  11. Stahl, Angenrod 2007, S. 72
  12. Vgl. Allgemeine Zeitung des Judentums, 26.11.1861 im Ortsartikel Angenrod auf Alemannia Judaica (s. Weblink)
  13. Oberhessische Zeitung, 22.10.1861 im Ortsartikel Angenrod auf Alemannia Judaica (s. Weblink)
  14. Arnsberg, Jüdische Gemeinden 1, S. 44; vgl. auch Gedenkbuch Bundesarchiv (s. Weblink)
  15. HStAD R 21 B
  16. Gedenkbuch Bundesarchiv (s. Weblink)
  17. Stahl, Angenrod 2007, S. 8
  18. Stahl, Angenrod 2007, 7 f.
  19. Dieser vermutete Zwischenboden zog sich allerdings nicht durch das gesamte Gebäude, da der Gottesdienstraum wahrscheinlich über zwei Stockwerke reichte.
  20. Vgl. http://www.ohg-giessen.de/publikationen/digital/stahl_2010.pdf, Kapitel: Die Synagoge in Angenrod.
  21. Beleg ist u.a. die Behandlung der Mikwe in den Akten des Alsfelder Kreisamtes um 1832, die im Zusammenhang mit der etwa zeitgleich reformierten Hygieneverordnung steht. Diese befasste sich auch (unter repressivem obrigkeitsstaatlichen und ggf. antisemitischen Aspekt) mit den hygienischen Zuständen von Mikwen. Siehe dazu: Errichtung, Instandhaltung und Visitationen von Frauenbädern der jüdischen Gemeinden (Einzelfälle): Angenrod, 1832–1898, in: HStAD G 15 Alsfeld, L 69
  22. Stahl, Angenrod 2007, S. 9
  23. Stahl, Angenrod 2007, S. 19
  24. Stahl, Angenrod 2007, S. 10
  25. Stahl, Angenrod 2007, S. 75 f.
  26. Stahl, Angenrod 2007, S. 70 f.
Recommended Citation
„Angenrod (Vogelsbergkreis)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/syn/id/55> (Stand: 22.7.2022)