Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Synagogen in Hessen

Birkenau Karten-Symbol

Gemeinde Birkenau, Landkreis Bergstraße — Von Wolfgang Fritzsche
Basic Data | History | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | References | Indices | Recommended Citation
Basic Data

Juden belegt seit

1653

Location

69488 Birkenau, Obergasse | → Lage anzeigen

Rabbinat

Darmstadt II (seit 1897)

religiöse Ausrichtung

orthodox

preserved

nein

Jahr des Verlusts

1940

Art des Verlusts

Abbruch

Gedenktafel vorhanden

ja

Weitere Informationen zum Standort

Historical Gazetteer

History

Der erste Nachweis einer jüdischen Familie kann für 1653 gefunden werden, das Jahr, in dem zum ersten Mal Schutzgeld als Einnahme der Ortsherrschaft verzeichnet wurde. 1679, kurz nach Ende des sogenannten Holländer-Krieges, wurde am 9. Juni ein Junge, Sohn jüdischer Eltern aus der Nähe von Worms, in Birkenau getauft. Ungeklärt ist allerdings, ob diese Familie auch im Ort ansässig war.

Namentlich wurden Juden Ende des 17. Jahrhunderts erstmals genannt. So findet sich Hirsch in 1686, von 1697 bis 1699 verfügten Männel und Abraham über Hausbesitz.1

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts stellte die Obrigkeit, Reichsfreiherr von Bohn, viele Schutzbriefe aus, um Juden anzusiedeln und die durch die vorangegangenen Kriege ausgelösten Bevölkerungsrückgänge aufzufangen. 1716 ließ er sogar „Judenhäuser“ bauen, statt wie beschlossen, einen Neubau der Kirche zu beginnen.2 Diese Häuser lagen vermutlich im Bereich der heutigen Untergasse, allerdings hat sich keines erhalten.

Viele der Bewohner sind namentlich bekannt. Mänel Levi war Vieh- und Kramhändler und schlachtete gelegentlich. Moses Levi hatte nach Birkenau geheiratet und versorgte seine Eltern, die bei ihm wohnten. Anschel Levi, der Sohn Mänels, stand erst seit zwei Jahren unter Schutz. Moses Hirsch besaß ein eigenes Haus und handelte gemeinsam mit seinem Bruder mit Pferden und Vieh. Gelegentlich schlachtete auch er. Er war mit einer Tochter des Manel verheiratet. Judel Hirsch hatte ebenfalls eingeheiratet und wohnte bei seinem Bruder. Moses Samuel war arm und lebte von der Unterstützung seiner Freunde. Daniel Samuel war Viehhändler. Hertz der Alte besaß ein eigenes Haus und lebte vom Viehhandel. Auch Meyer Levi war Viehhändler. Feist der Alte war der Vorsänger der Gemeinde. Von Männel Pitschiorstecher wurde nichts weiter berichtet, außer dass er seit neun Jahren in Birkenau lebt. Anschel der Alte war genau so lange im Ort gemeldet, verdingte sich aber als Metzger in Mannheim. Der Viehhändler Mordische Herz lebte seit vier Jahren im Ort. Isac Michelbach lebte ebenfalls vom Handel mit Vieh. Copel lebt vom Botengang und guten Willen seiner Nachbarn. Isac Hertz stammte aus Mannheim und war Spitzenhändler. Daniel Isac kam aus Lützelsachsen und handelte mit Vieh. Israel Spillmann lebte vom Spielwerk, machte also Musik genau wie Löw Israel Spiellmann. Abwesend, aber zur örtlichen Judenschaft gehörig, waren Löw der Lange, ein armer Mann, Salmon Spielmann, Gerstel Spielmann, Lazarus Spielmann sowie Löw Salman Spielmann. Als Witwen gemeldet waren Veist Witwe, die seit 28 Jahren in Birkenau lebte, Samuel Witwe, Hirsch Witwe und Modichen Witwe. Am längsten von ihnen, seit 40 Jahren, wohnte Hirsch Witwe im Ort.3

Bis 1721 erhöhte sich die Zahl jüdischer Familien auf 28. In diesem Jahr wurde Moses Levi als Judenschultheiss bezeichnet. Es ist davon auszugehen, dass damit der Gemeindevorstand gemeint war. Dies und die hohe Zahl der Familien wiederum legt den Schluss nahe, dass sich zu dieser Zeit bereits eine Gemeinde konstituiert hatte.

Der neue katholische Ortsherr, Freiherr von Wambolt zu Umstadt, verfolgte eine andere Ansiedlungspolitik, was zu einem Rückgang der Zahl jüdischer Bewohner bis 1725 auf 60 führte. Das entspricht etwa zwölf Familien.

Als die Juden 1809 angehalten wurden, feste Familiennamen anzunehmen, wurden 16 Familien genannt.

Die Gemeinde agierte auch wohltätig. Kam zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein sogenannter Betteljude nach Birkenau, so konnte er den Rabbiner aufsuchen. Dieser wies ihn entweder über Nacht bei freier Verköstigung oder für einen halben Tag zur Stärkung einem der Gemeindemitglieder zu. Diese hatten sich selbst zuvor entsprechend ihrer Vermögensverhältnisse dazu bereit erklärt.4

Wie überall in den Staaten des damaligen Deutschen Reichs war Juden der Zutritt zu Handwerkszünften und der Landbesitz versagt. Daraus folgt, dass die überwiegende Mehrheit ihr Einkommen mit Handel bestritt. Aus dem Jahr 1721 existiert eine Liste, aus dem die von Juden ausgeübten Berufe hervorgehen. Danach gab es elf Vieh- und zwei Pferdehändler, drei Krämer und einen Spitzenkrämer, sieben Schlachter, sechs Musikanten, einen Botengänger und einen Vorsänger.5 1756 wurde auswärtigen Metzgern der Fleischverkauf, Schweinefleisch ausgenommen, in Birkenau verboten. Die berufliche und soziale Situation änderte sich partiell erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der bürgerlichen Gleichstellung. Dem entsprach auch die Berufsstruktur der Mitglieder der Birkenauer jüdischen Gemeinde, die nach wie vor in überwiegender Zahl als Händler tätig waren.

In welchen Häusern die ersten Juden des Ortes wohnten, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit nachweisen. Erster jüdischer Grund- und Hausbesitz lässt sich allerdings bereits für das ausgehende 17. Jahrhundert belegen. Mit Einführung des Brandkatasters 1808 können auch die Gebäude Personen zugeordnet werden. Hier sind vier Häuser in jüdischem Besitz festgehalten, die sich alle in der Untergasse befinden: Untergasse 11, 19, 22 und 24. In den folgenden Jahren wurde der Erwerb von Grundbesitz vereinfacht. Dadurch stieg auch die Zahl der Häuser mit jüdischen Besitzern. Sie lagen ebenfalls vor allem an der alten Durchgangsstraße Weinheim-Fürth, der heutigen Untergasse, Kreuzgasse und Kirchgasse.

Um 1871 erreichte die Gemeinde mit 95 Personen ihren höchsten Stand im 19. Jahrhundert. Das entsprach etwa 7 % der Gesamtbevölkerung. In den folgenden Jahren sank sowohl der absolute als auch der relative Anteil der jüdischen Einwohnerschaft.

Außer der Synagoge überfielen Nazis auch Privatwohnungen und misshandelten teilweise deren Bewohner. Viele Männer wurden verhaftet und in sogenannte Schutzhaft genommen.

Viele Mitglieder der Birkenauer jüdischen Gemeinde wurden deportiert und ermordet. Nur wenige hatten das Glück, auswandern zu können.

Betsaal / Synagoge

Seit Bestehen der Gemeinde in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mietete man zunächst Räume für Schule und Gottesdienst an. 1770 war dies im Haus von Feist Mändel. Ihm wird durch den Ortsherrn eine jährliche Miete zugestanden, was wohl der Schlichtung eines gemeindeinternen Streites gleichkommt, denn mit dem gleichen Schriftstück wird die Gemeinde aufgefordert, eine eigene Synagoge bauen zu lassen.6 Archivalisch nachweisen lässt sich dies aber erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als die Gemeinde ein einstöckiges Haus besaß, in dem die „Judenschule und ein Baadhäuschen“7 untergebracht war. Dieses Haus wurde 1833 an Hirsch Hirsch verkauft. Ein etwa zu gleicher Zeit angelegter Situationsplan zeigt, wenn auch nur rudimentär, die Synagoge als Anbau an das Wohnhaus, der sich zwischen das Grundstück des einen und die Scheune eines anderen Nachbarn zwängte. Im vorderen Bereich war der Männersaal, im hinteren der für Frauen untergebracht. Beide Langseiten waren durchfenstert.

Am 10. April 1853 wurde die Synagoge durch Brand erheblich beschädigt. An einen Wiederaufbau war aufgrund des Schadenumfanges nicht zu denken, zudem war der alte Synagogenraum für die zwischenzeitlich angewachsene Gemeinde zu klein geworden. Daher wurde der Bau einer neuen Synagoge empfohlen. In den folgenden Jahren wurden Kollekten durchgeführt und verschiedene Überlegungen angestellt. 1857 wünschte sich der Gemeindevorstand keinen Fachwerkbau, sondern einen Massivbau. Der Thoraschrein sollte so gestaltet werden, dass das Almemor wegfallen konnte.8 Es entstand ein mit einem Satteldach versehenes massives Gebäude von 11,2 Metern Länge und etwa 7 Metern Breite aus Syenit, der im Odenwald ansteht. Über dem Eingang in der Westwand erhob sich eine giebelförmige Verdachung, die auf zwei Säulen ruhte. Sie trug die beiden steinernen Gesetzestafeln. In der Wand darüber befand sich ein rundes Fenster mit Davidstern. Die beiden Längsseiten waren von dreifach gekuppelten Fenstern durchbrochen. Der Thoraschrein im Inneren befand sich an der Ostseite, unmittelbar vorgelagert das Lesepult. Ihm gegenüber erhob sich die Frauenempore, zu der ein gesonderter Eingang und eine eigene, außen liegende Treppe führten.

Die Synagoge wurde am 17. Oktober 1859 mit einer großen Feier eingeweiht.

1891/92 wurde die neu gebaute Trasse der Eisenbahnstrecke Weinheim – Fürth/Waldmichelbach nur wenige Meter an der Synagoge vorbei geführt.

Ende der 1920er Jahre barg die Synagoge 100 Sitzplätze mit Pulten für Männer und 50 für Frauen. Entsprechend verfügte die Garderobeneinrichtung über 150 Einheiten. Neben dem Thoraschrein mit Altaraufbau bestanden das Almemor mit Wickelbank und zwei Leuchtern, ein Vorbeterpult, eine Predigerkanzel, ein Kristalllüster, ein Kronleuchter, acht Seitenleuchter, zwei Leuchter neben dem Thoraschrein, ein 30 Meter langer Kokosläufer, ein Schrank mit Kultgegenständen, eine Ofenheizung für Erdgeschoss und Empore und anderes mehr.9

1938 was es aufgrund der nationalsozialistischen Repressionen nicht mehr möglich, die Synagoge zu erhalten. Am 12. September 1938 stellte die Gemeinde das Gesuch, die Synagoge zu verkaufen. SA-Schergen drangen ein, zertrümmerten die Bänke und zündeten das Holz an. Dabei verbrannten sie auch die Thorarollen. Nur einen Tag später unterschrieb der Bürgermeister den Kaufvertrag. Ein Kaufpreis wurde nicht bezahlt.10 Daher musste die politische Gemeinde nach dem Krieg 4.900 Mark an die JRSO abführen.

Am 3. März 1940 beschloss der Gemeinderat, die Synagoge abzubrechen und das Baumaterial weiter zu verwenden.11 Seit 1988 steht an ihrer Stelle ein Gedenkstein.

Weitere Einrichtungen

Mikwe

Die älteste Mikwe in Birkenau ist über das Brandkataster von 1808 nachweisbar. Vermutlich hat es aber bereits vorher eine Mikwe gegeben. Diese stand bis zum Brand der Synagoge 1851 zur Verfügung. Anschließend baute man erst 1868 eine neue Mikwe auf dem Grundstück Ecke Untergasse/Kallstädter Bach (bei Untergasse 11). Sie wurde mit Unterbrechungen bis 1930 genutzt. In diesem Jahr wurde die Mikwe für 280 Reichsmark verkauft, weil ihr Unterhalt zu kostspielig geworden war. Seitdem besuchten die Frauen aus Birkenau die Mikwe in Heidelberg.

Schule

Da für eine funktionierende Gemeinde eine Schule notwendig ist, darf davon ausgegangen werden, dass bereits um 1721 auch eine solche existierte. Tatsächlich beweisen lässt sich dies aber erst für Anfang des 19. Jahrhunderts. Da Birkenau seit 1806 zum Großherzogtum Hessen gehörte, galt dort auch die entsprechende Schulordnung, die ab 1815 vorsah, dass die jüdischen Kinder in öffentliche Schulen gehen konnten. Seit 1827 mussten sie die öffentliche Schule besuchen. Dies ging aber nicht mit der Pflicht einher, dort auch den Religionsunterricht zu besuchen.

Der Religionsunterricht fand zumeist in der Synagoge, in der Wohnung des Lehrers oder in einem angemieteten Raum statt. Erst seit 1874 schreibt das hessische Volksschulgesetz ein geeignetes Schullokal verpflichtend vor.12 Dieses befand sich im Gebäude der Mikwe im Bereich Untergasse/Kallstädter Bach.

Cemetery

Es wird davon ausgegangen, dass die ersten jüdischen Einwohner Birkenaus ihre Verstorbenen auf dem Friedhof in Hemsbach beisetzten. 1717 erwarb der Vorsteher Moses Levi im Namen der gesamten Judenschaft einen Grasgarten an der heutigen Kallstädter Talstraße, um einen Friedhof einzurichten. Zunächst bestattete dort auch die Gemeinde Rimbach ihre Verstorbenen. Diese gemeinsame Nutzung endete 1844, als in Rimbach ein eigener Friedhof angelegt wurde.

Die Reihenfolge der Grabstätten richtet sich nach dem Sterbedatum. Die älteren Steine sind aus Sandstein, die jüngeren aus Granit oder Syenit. Die älteren Grabsteine tragen Inschriften ausschließlich in hebräischer Schrift. Sie sind oft so verwittert, dass sie heute kaum mehr zu lesen sind. Die jüngeren Steine tragen zusätzlich auf ihrer Rückseite auch deutsche Inschriften.13 Vielfach finden sich die Segnenden Hände, das Zeichen der Kohanim, an Grabsteinen der Familie Hirsch.

Für das Jahr 1909 ist eine Chewra-Kadische nachgewiesen, die sicherlich aber auch zuvor bestanden hat.

1936 wurden acht Grabsteinen umgeworfen und zerbrochen. Später, das Datum ist nicht genau feststellbar, wurde der Friedhof geschändet. Heute sind rund 150 Grabstätten erhalten. Der älteste erhaltene Grabstein stammt noch aus der Frühzeit des Friedhofes, aus dem Jahr 1722. Die letzte Bestattung fand am 10. Oktober 1941 statt.

Birkenau, Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen

Grabstätten

Birkenau, Jüdischer Friedhof: Grabstätten anzeigen

References

Weblinks

Sources

Bibliography

Illustrations

Indices

Persons

Hirsch · Männel · Abraham · Bohn, Reichsfreiherren von · Mänel Levi · Moses Levi · Anschel Levi · Moses Hirsch · Judel Hirsch · Moses Samuel · Daniel Samuel · Hertz der Alte · Meyer Levi · Feist der Alte · Männel Pitschiorstecher · Anschel der Alte · Mordische Herz · Isac Michelbach · Copel · Isac Hertz · Daniel Isac · Israel Spillmann · Löw Israel Spiellmann · Löw der Lange · Salmon Spielmann · Gerstel Spielmann · Lazarus Spielmann · Löw Salman Spielmann · Veist, Witwe · Samuel, Witwe · Hirsch, Witwe · Modichen, Witwe · Hirsch, Witwe · Wambolt zu Umstadt, Freiherr von · Feist Mändel · Hirsch Hirsch · Hirsch, Familie

Places

Worms · Mannheim · Lützelsachsen · Heidelberg · Hemsbach · Rimbach

Sachbegriffe Geschichte

Holländer-Krieg · Hessen, Großherzogtum

Sachbegriffe Ausstattung

Thoraschreine · Almemore · Gesetzestafeln · Davidsterne · Lesepulte · Wickelbänke · Leuchter · Vorbeterpulte · Predigerpulte · Kristalllüster · Kronleuchter · Thorarollen

Sachbegriffe Architektur

Satteldächer · Säulen · Emporen · Frauenemporen

Fußnoten
  1. Gebhard, 1993, S. 16.
  2. Gebhard, 1993, S. 15.
  3. Gebhard, 1993, S. 18.
  4. Gebhard, 1993, S. 24.
  5. Gebhard, 1993, S. 27.
  6. Gebhard, 1993, 51.
  7. Gebhard, 1993, 52.
  8. Gebhard, 1993, 53.
  9. HHStAW 518, 1393.
  10. Gebhard, 1993, 104.
  11. Gebhard, 1993, 58.
  12. Gebhard, 1993, S. 47.
  13. Gebhard, 1993, 71.
Recommended Citation
„Birkenau (Landkreis Bergstraße)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/syn/id/91> (Stand: 11.10.2023)