Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Synagogen in Hessen

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5623 Schlüchtern
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Kurfürstentum Hessen 1840-1861 – 96. Schlüchtern
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Vollmerz Karten-Symbol

Gemeinde Schlüchtern, Main-Kinzig-Kreis — Von Wolfgang Fritzsche
Basic Data | History | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | References | Indices | Recommended Citation
Basic Data

Juden belegt seit

1587

Location

36381 Schlüchtern, Stadtteil Vollmerz, Hinkelhofer Straße 4 a | → Lage anzeigen

Rabbinat

Hanau

preserved

nein

Jahr des Verlusts

ca. 1976

Art des Verlusts

Abbruch

Gedenktafel vorhanden

nein

Weitere Informationen zum Standort

Historical Gazetteer

History

Vollmerz, heute ein Stadtteil von Schlüchtern im Main-Kinzig-Kreis, wurde urkundlich erstmals 1226 als Vollmundis genannt und kam 1333 an die Herrschaft Hanau. 1643 wurde der Ort mit dem Amt Schwarzenfels der Landgrafschaft Hessen-Kassel übergeben. Nach unterschiedlicher Zugehörigkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts fiel er 1813 an das Kurfürstentum Hessen, wo er seit 1821 dem Landkreis Schlüchtern zugeordnet war. Ab 1866 preußisch, wurde er am 1. Dezember 1969 in die hessische Stadt Schlüchtern inkorporiert.

Für Vollmerz wurde erstmals 1587 ein Jude in einem Gerichtsprotokoll erwähnt.1 Danach ist die Anwesenheit von Juden im Dorf ungewiss, erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts lebten dort zwei Familien. 1769 waren es bereits zwölf. In der Mitte des 19. Jahrhunderts waren es wohl über 100 Personen. Ihre Zahl sank bis 1905 auf 36, um 1933 bei sechs zu liegen.

Wann genau sich eine Gemeinde konstituierte, ist nicht bekannt. Allein die hohe Zahl der Familien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts deutet darauf hin, dass es bereits zu dieser Zeit eine Gemeinde und die notwendigen Gemeindeeinrichtungen gab. Befand sich der Betraum zunächst in einem privaten Wohnhaus, so wurde 1812 eine eigene Synagoge eingerichtet.

Trotz der Größe der Gemeinde gibt es nur wenige Hinweise auf ihr Bestehen. Nachdem mit Gesetz vom 29. Oktober 1833 die staatsbürgerlichen Verhältnisse der Juden neu geregelt worden waren, konnten sich die jüdischen Bewohner von Vollmerz entscheiden, ob sie die Staats-, beziehungsweise Ortsbürgerschaft annehmen oder als Nothändler betrachtet werden wollten. In der Anweisung für das Amt heißt es dazu, „daß jedem inländischen Juden in der hiesigen Provinz, welcher nicht ausgewiesen werden kann, ein Nothhandelsschein, wenn er sich um solchen binnen 3 Monaten nach Bekanntmachung des Gesetzes vom 29ten Oktober v. J. gemeldet hat, zu ertheilen, und dazu ein Stempel von 3 Thlr. (für 3 Jahre) anzuwenden sei, ein solcher Nothhändler aber in dasjenige Gemeindeverhältnis trete, in welchem Gemeinde-Angehörige nach jeder Ortsverfassung stehen, die das Ortsbürgerrecht aber nicht erworben haben.“2 Die daraufhin 1834 aufgestellte Liste mit 31 männlichen Personen gibt einen interessanten Einblick nicht nur in persönliche, sondern auch in die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Deshalb soll sie hier weitgehend vollständig wiedergegeben werden: Calmann Sundheimer, 74 Jahre alt, verheiratet, Viehhändler, nahm die Staatsbürgerschaft an. Gleiches tat Moses Sundheimer, sein 34jähriger lediger Sohn. Salmann Sundheimer, 28 Jahre alt, ledig, wählte Nothändler. Simon Oppenheimer, 48 Jahre alt, verheiratet, betrieb Hausierhandel mit Ellenwaren, Kümmel, Früchten und Trödelwaren, Viehhandel und war als Schlachter tätig. Auch er wählte Nothändler. Jakob Oppenheimer, 18 Jahre alt, Gehilfe seines Vaters Simon, der einen Leibschaden hatte, wählte ebenfalls Nothändler. Hirsch Löb, 62 Jahre alt, verheiratet, war Makler, Viehhändler und Schlachter und wählte Nothändler. Seligmann Grunewald, 27 Jahre alt, ledig, betrieb Lumpen-, Vieh- und Trödelhandel. Auch er wählte Nothändler. Sein Bruder Lazar war 20 Jahre alt, ledig und wählte ebenfalls Nothändler. Beide unterstützten ihre Mutter mit weiteren fünf unmündigen Kindern. Moses Birk, 91 Jahre alt, der Vater der drei folgenden, wurde von seinen Söhnen unterhalten und wählte Nothändler. Victor Birk, 52 Jahre alt, ledig, wie seine beiden Brüder handelte und makelte er mit Vieh, er wählte Nothändler. Abraham Birk, 42 Jahre alt, ledig und Löb Birk, 38 Jahre alt, ledig, wählten den gleichen Status. Alle drei unterstützen neben ihrem 91 Jahre alten Vater auch die 78 Jahre alte Mutter. Anselm Nussbaum, 44 Jahre alt, verheiratet, betrieb Viehhandel, makelte und war Schlachter. Er wählte Nothändler. Jacob Hecht, 51 Jahre alt verheiratet, war sehr arm, betrieb Vieh- und Trödelhandel und war Makler und Schlachter. Auch er wählte Nothändler. Hirsch Hecht, 55 Jahre alt, ledig, betrieb Lumpenhandel, handelte mit Ziegen und war Trödler mit alten Töpfen und Eisen. Er wählte Nothändler. Abraham Hecht, 45 Jahre alt, ledig, betrieb Viehhandel, war Schlachter und Makler und Trödler mit Kupfer und Messing. Auch er wählte Nothändler. Liebmann Levi, 50 Jahre alt, Witwer, betrieb Hausierhandel mit Ellenwaren und kurzen Waren, Kupfer, Messing, Federn, Garn sowie sonstigem Trödel. Zudem war er als Schlachter tätig und wählte Nothändler. Simon Levi, 17 ½ Jahre alt, sein Sohn, sollte ihm bei seiner Arbeit beistehen. Meyer Levi, 24 Jahre alt, ledig, Seifensieder und Schlachter wählte das Ortsbürgerrecht. Josef Schiff, 34 Jahre, ledig, handelte mit Ellenwaren und kurzen Waren und war Schlachter. Auch er wählte das Ortsbürgerrecht. Mentel Schiff, 52 Jahre alt, verheiratet, hausierte mit Ellenwaren und wählte Nothändler. Jacob Sundeimer, 42 Jahre alt, verheiratet, betrieb Viehhandel, war als Schlachter tätig und wählte das Ortsbürgerrecht. Meyer Löb Schiff, 68 Jahre alt, war ganz arm. Er lebte vom Trödelhandel und makelte etwas. Er wählte Nothandel. Sein einziger Sohn Abraham Schiff, 25 Jahre alt, war ledig und betrieb den gleichen Handel, wie sein Vater. Auch er wählte Nothändler. Hirsch Birk, 60 Jahre alt, verheiratet, lebte vom Viehhandel und Schlachten und wählte Nothändler. Sein Sohn Victor Birk, 17 1/2 Jahre alt, unterstützte ihn dabei und wählte ebenfalls Nothändler. Lazarus Katzmann, 60 Jahre alt, „kann wegen kurzem Gesicht und Verstand nichts mehr verdienen“. Er verdingte sich als Tagelöhner. Sein lediger Sohn Moses Katzmann, 25 Jahre alt, musste ihn ernähren. Er hausierte und trödelte mit altem Eisen, Kupfer, Lumpen und wählte Nothändler. Hirsch Grünebaum, 60 Jahre alt, verheiratet, war blind und konnte nicht arbeiten, sondern lebte von der Unterstützung seiner Kinder. Er machte keine Angaben. Simon Grünebaum, 24 Jahre alt, wählte Nothändler und hausierte mit etwas Ellenwaren und Trödel. Hejum Neumark, 63 Jahre alt, war der Vorsänger der Synagogengemeinde und wählte die Staatsbürgerschaft.3

Nach dem Ersten Weltkrieg galt Theodor Nussbaum als vermisst.4

Die Gemeinde zählte vor 1933 rund 22 Mitglieder (etwa 80 Personen) und wurde wohl schon vor den Novemberpogromen aufgelöst.5 1939 lebten noch vier jüdische Personen, ein Mann und drei Frauen, in Vollmerz.

Betsaal / Synagoge

Die Zahl von zwölf Familien im Jahr 1769 macht es sehr wahrscheinlich, dass bereits zu dieser Zeit ein Betraum bestand. Um 1800 befand sich dieser im ersten Stock eines Wohnhauses. 1811 beantragte die Gemeinde den Bau einer neuen Synagoge, was ihnen nach Zahlung aller Rückstände beim Amt 1812 gestattet wurde. Das Gebäude lag versteckt hinter einem Garten und wurde 1976 abgerissen.

In den 1930er Jahren wurde der Betraum mit einer Größe von rund 65 Quadratmetern bezeichnet. Ein Holzpodest diente als Altar. Über Einrichtung und Ausstattung konnten nach dem Holocaust keine Angaben gemacht werden.

Nachdem die Gemeinde wohl schon 1938 aufgelöst worden war, lagerte man die Kultgegenstände in die Synagoge nach Schlüchtern aus, wo sie in der Pogromnacht zerstört wurden. Einer im Zuge des Wiedergutmachungsverfahrens erstellten Liste sind die einzelnen Gegenstände zu entnehmen. Danach handelte es sich um fünf Thorarollen, zwei silberne Thorakronen, zwei Paar silberne Thoraaufsätze mit Schellen, einen silbernen Lesefinger, einen Lesefinger aus Holz, 14 goldbestickte Thoramäntel, 30 handbemalte Wimpel, drei goldbestickte Thoraschreinvorhänge, eine goldbestickte Decke für das Vorbeterpult, zwei goldbestickte Decken für das Vorleserpult, zwei goldbestickte Decken für das Predigerpult, eine Ewige Lampe aus Messing, einen Channukahleuchter aus Messing, einen silbernen Weinbecher, eine silberne Hawdallahgarnitur, ein auf Pergament geschriebenes Megillah mit Mantel, ein Schofarhorn, 18 Gebetbücher und ein Priesterwaschbecken aus Messing mit Kanne.6

Das Gebäude blieb in der Pogromnacht wohl weitgehend verschont. Die Inneneinrichtung und die Fensterscheiben wurden jedoch zerstört.

Da die ehemalige jüdische Gemeinde rund 100 Reichsmark Schulden bei der politischen Gemeinde hatte, ließ diese das Synagogengebäude um 1940 versteigern. In ihrem Antrag auf Zwangsversteigerung schrieb sie, das „Gebäude besitzt nur noch reinen Abbruchwert [...]“.7

In der Zeit danach diente das Haus als Spenglerei und als Pferdestall und geriet mehr und mehr in Verfall. Nach jahrelangem Leerstand verkaufte der Besitzer das Gebäude auf Abbruch. Der Käufer verwendete große Teile des gut erhaltenen Holzes für sein neues Wohnhaus. Beim Abbruch kam hinter der Verschindelung ein Fachwerk aus schweren Eichenbalken zum Vorschein. In einem der Balken hatten sich die Zimmerleute verewigt: „Zim(mer)Meister Nikolaus Zieker und (…) Gläser d. 27ten May 1812“. Auch zwei Kultsteine mit hebräischen Inschriften und verkohlte Reste alter Gebetbücher wurden gefunden. „Die Kultsteine haben ihren Platz im Heimatmuseum in Schlüchtern gefunden.“8 Das Fachwerk wurde abgetragen und in Stork bei Flieden als Wohnhaus zweitverwendet.

Nach bei Altaras abgedruckten Plänen9 handelte es sich um ein verputztes Fachwerkhaus über einem niedrigen Sockel unter einem steilen Krüppelwalmdach in Ständerbauweise. Einzig der Eingangsbereich war zweigeschossig abgebunden, weil sich im Inneren dort die Empore befand. Die Grundfläche betrug 7 × 11 Meter. Im Inneren befand sich links des Vorraumes der eigentliche Betraum mit einseitiger Empore. Der Zugang dazu erfolgte über einen der westlichen Giebelwand vorgestellten Anbau, über den auch die Mikwe hinter dem Vorraum zu betreten war. In der nördlichen Traufwand befand sich der von einem Rundbogen überwölbte Eingang mit zweiflügeliger Tür. In dieser Wand lagen auch drei hochrechteckige Fenster, die den Synagogenraum erhellten. Die Empore erhielt ihr Licht durch je ein kleines Rechteckfenster in den beiden Traufseiten. In der Mitte des Synagogensaales verlief ein etwa 1,2 Meter breiter Belag aus Steinplatten, der links und rechts von einem Dielenboden begleitet wurde. In der Mittelachse stand das Vorleserpult.

Weitere Einrichtungen

Mikwe

Die Mikwe befand sich hinter dem Vorraum der 1812 erbauten Synagoge. Der Zugang erfolgte über einen der westlichen Giebelwand vorgestellten Anbau, in dem wahrscheinlich die Nebenräume des Bades lagen. Das in den Boden eingelassene Tauchbecken war wohl mit dem Grundwasser verbunden. Zusätzlich wird erwärmtes Regenwasser zugeleitet worden sein.

„Anlässlich des Abbaues und Versetzen der ehemaligen Synagoge ist die Ritualbad-Anlage zerstört und entfernt worden.“10

Cemetery

Der 660 Quadratmeter große Friedhof liegt am Rande des Dorfes am Weg zur Mühle. Die kleine, trapezförmige Anlage wird von dem Rest einer lockeren Friedhofsmauer entlang der Straßenseite, überwiegend aber einem Maschendrahtzaun eingefasst. Der Zugang erfolgt über eine alte Holzgattertür zwischen alten Sandsteinpfosten. Insgesamt haben sich 77 Grabsteine erhalten. Der älteste stammt von 1751, der jüngste von 1940.

Vollmerz, Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen

References

Weblinks

Sources

Bibliography

Illustrations

Fußnoten
  1. Steinfeld, 1983, S. 35
  2. HStAM 340 von Degenfels-Schomburg Nr. 2
  3. HStAM 340 von Degenfels-Schomburg Nr. 2
  4. Arnsberg, 1971, S. 331
  5. HHStAW 503, 7366
  6. HHStAW 518, 1175
  7. HStAM 180 Schlüchtern, 1424
  8. Steinfeld, 1983, S. 35
  9. Altaras 2007, S. 347
  10. Altaras 2007, S. 347
Recommended Citation
„Vollmerz (Main-Kinzig-Kreis)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/syn/id/199> (Stand: 25.8.2022)