Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Synagogen in Hessen

Rüsselsheim Karten-Symbol

Gemeinde Rüsselsheim, Landkreis Groß-Gerau — Von Wolfgang Fritzsche
Basic Data | History | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | References | Indices | Recommended Citation
Basic Data

Juden belegt seit

1564

Location

65428 Rüsselsheim, Mainzer Straße 19 | → Lage anzeigen

Rabbinat

bis 1928 Darmstadt II, danach Darmstadt I

religiöse Ausrichtung

orthodox/liberal

preserved

ja

Gedenktafel vorhanden

ja

Weitere Informationen zum Standort

Historical Gazetteer

History

Der bislang älteste Hinweis auf jüdische Einwohner stammt von Oktober 1564 als drei Rüsselsheimer Juden arretiert und gegen Zahlung von 1.500 Goldgulden wieder frei gelassen wurden.1 Zu dieser Zeit zog Simon Anschel genannt Schwindtlauffer von Windecken nach Rüsselsheim, verzog aber wenig später aus nicht genanntem Grund nach Wölfersheim.2

1631 bedrängten königlich-schwedische Soldaten Juden im Gebiet des Hessischen Landgrafen, darunter auch die aus Rüsselsheim und dem Amt Dornberg.3 Allerspätestens zu dieser Zeit muss es bereits eine jüdische Gemeinde und eine nennenswerte Zahl jüdischer Bewohner gegeben haben, denn Landgraf Georg II. instruierte 1642 seinen Keller in Rüsselsheim, dass er sich bezüglich der Sabbathdienste von Christen bei Juden streng an die Judenordnung von 1629 zu halten habe und die Juden deswegen vorläufig nicht zu bestrafen seien.4

Mitte des 17. Jahrhunderts war Rüsselsheim Ort eines Judenlandtags. Dort urteilte der Wormser Rabbiner Schimschon (Samson) Bacharach am 27. November 1650 in einem Streit zwischen den Vorstehern der landgräflich-hessischen und hessisch-pfälzischen Juden wegen Steuerangelegenheiten. Gleichwohl dürfte die Zahl der jüdischen Einwohner gering gewesen sein, denn in zwei Steuerlisten von 1642 und 1645 werden für Darmstadt, Groß-Gerau, Rüsselsheim, Zwingenberg, Crumstadt und Rohrheim insgesamt nur zwölf Juden aufgeführt.5

Nach dem Tode des Landgrafen Georg II. 1661 wurden, wie in seinem Testament empfohlen und von den Städten gefordert, die Juden aus den hessischen Städten vertrieben.6 Hierzu wird auch Rüsselsheim gehört haben, denn mit Verordnung vom 19. Dezember 1663 musste die Synagoge geschlossen werden und ein Neubau wurde untersagt.7

Aber nicht alle Juden haben 1662/63 die Stadt tatsächlich dauerhaft verlassen. 1698 kam der Jude Kirsch mit der Bitte ein, ihm Steuererleichterung zu gewähren. Am 17. August des gleichen Jahres trug Landgraf Ernst Ludwig seinem Rüsselsheimer Amtmann Johann Philipp Grall auf, dieses Gesuch abzuschlagen.8 Mit Beginn des 18. Jahrhunderts verdichten sich die Nachrichten. 1713 lebten 22 Juden in der Stadt, 1735 stellte die Gemeinde Rüsselsheim mit Isaak den Vorsteher für die Region Darmstadt-Starkenburg auf dem Judenlandtag.9 Bis 1784 hatte sich die Zahl jüdischer Einwohner mehr als verdoppelt, um 1817 mit 105 ihren Höchststand zu erreichen. Das entsprach 7,7 Prozent der Gesamtbevölkerung. Den absoluten Höchststand erreichte die Stadt 1858 mit 123 jüdischen Einwohnern. Da zu dieser Zeit aber die christlich Bevölkerung nicht zuletzt wegen der Industrialisierung auf über 2.000 gestiegen war, lag der prozentuale Anteil nur bei 5,9 Prozent. In der Folgezeit sank dieser wieder ab und lag 1930 bei nur noch 0,5 Prozent.10

Bis Anfang des 19. Jahrhunderts gehörten auch die jüdischen Einwohner von Raunheim, Bauschheim, Ginsheim, Königstädten und Bischofsheim zur Gemeinde Rüsselsheim. In den 1830er Jahren stieß die Gemeinde Königstädten als Vertreterin der in Königstädten, Bauschheim, Raunheim und Ginsheim wohnenden Juden einen langwierigen Prozess an, als sie versuchte, die Religionsgemeinschaft mit Rüsselsheim aufzulösen. Es bedurfte mehrerer Gerichtsprozesse und Vergleiche, bis Königstädten, Bischofsheim und Ginsheim tatsächlich ausgetreten waren. Dabei spielte auch die Finanzierung einer neuen Mikwe 1838 in Rüsselsheim eine Rolle. Gegen die Kostenbeteiligung wehrten sich die angeschlossenen Gemeinden, „denn die Erbauung eines Baades ist blos privat, und keine frühere Gerechtigkeit.“ Als etwas später Spenden für den Bau der Synagoge eingingen, betonten sie, diese seien eben für den Bau der Synagoge, „nicht aber zu Erbauung eines Frauen Baads, das blos zur Bequemlichkeit dienen soll“11 gedacht. Diese Mikwe wurde zunächst nicht realisiert.

Obwohl sich auch Rüsselsheim gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr schnell zu einem Industriestandort entwickelte, machte sich auch hier der Abzug vor allem junger Leute in die nahe gelegenen Städte Frankfurt und Mainz bemerkbar. Rüsselsheim gehörte zu den Ortschaften in Hessen, in denen Juden sehr früh auch Handwerksberufen nachgehen konnten. So arbeiteten Ende des 19. Jahrhunderts Herz Nachmann und Jakob Schott III als Schuster und Israel Schott als Schneider.12 Bis in die 1920er Jahre hatte sich das Verhältnis von Händlern zu Handwerkern umgedreht. Einzig Josef Grau und Abraham Gottschall handelten mit Vieh beziehungsweise Futtermitteln. Rüsselsheims erster Opelhändler hieß Moses Linz und der erste Taxiunternehmer war Emanuel Nachmann.13

1928 löste sich Rüsselsheim vom orthodoxen Rabbinat II und trat dem liberalen Rabbinat I bei.

1933 lebten noch 47 jüdische Personen in Rüsselsheim. In den folgenden Jahren verließen die meisten aufgrund zunehmender wirtschaftlicher und sozialer Repressionen die Stadt. In der Pogromnacht wurde die umfangreiche Bibliothek des Lehrers Sami Stern am Mainufer verbrannt.

Im Mai 1939 lebten noch 13 jüdische Personen in Rüsselsheim, im Oktober des gleichen Jahres waren es nur noch neun, die in das Haus von Hermann Gottschall in der Schäfergasse ziehen mussten. Die Mehrheit wurde deportiert und ermordet.

Betsaal / Synagoge

Bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gab es in Rüsselsheim eine Synagoge, die 1663 geschlossen werden musste. Zu dieser Zeit mussten auch einige jüdische Familien die Stadt verlassen. Nach derzeitigem Stand der Quellenlage dürfte es als ausgeschlossen gelten, den Standort dieser ältesten nachweisbaren Synagoge zu rekonstruieren. Auch ob es in den folgenden Jahren einen Betsaal in einem Privathaus oder eine nicht genehmigte Synagoge gab, konnte bislang noch nicht abschließend geklärt werden.

1778 wird im Brandkataster von einer Schule auf dem Grundstück von Abraham Jakob berichtet.14 Demnach kann als gesichert gelten, dass es 1770 ein jüdisches Gemeindezentrum gab, das aus einer Synagoge, einem zweistöckigen Schulgebäude und vermutlich der Lehrerwohnung bestand. Ebenso gesichert ist, dass sich diese Gebäude am gleichen Standort, wie die später neu erbaute Synagoge befanden. Dass dieses „Zentrum” in Besitz eines Privatmannes stand, mag formale Gründe gehabt haben, denn schon 1794 wird als Besitzer der Hofreite die Judengemeinde bezeichnet.15 Bis zur Streichung 1844 finden sich gleichlautende Einträge für den gleichen Ort in der Stadt.16

Bis zu diesem Zeitpunkt war die Synagoge baufällig geworden und musste erneuert werden. Da die Gemeinde die Kosten aber nicht alleine tragen konnte, wurde bereits 1841 ein Spendenaufruf erlassen. Geplant war der Bau einer neuen Synagoge samt Frauenbad im Hof der alten Synagoge. Die Kosten wurden auf 2.500 bis 3.000 Gulden geschätzt. „Nachdem wir erwogen, daß die Synagoge selbst sehr alt, äußerst baufällig und für das jetzige Bedürfniß zu klein ist, entschlossen wir uns zur Erbauung einer neuen Synagoge mit der Einrichtung eines Frauenbades.“ Zur Gemeinde gehörten seinerzeit 14 Mitglieder aus Rüsselsheim, je zwei aus Raunheim und Bauschheim, sieben aus Königstädten, sechs aus Bischofsheim und vier aus Ginsheim. Obwohl die Mitgliederzahl mit 35 nicht gering war, waren die meisten zu arm, einen nennenswerten Beitrag für den Bau zu leisten. ,„Auf der einen Seite gedrängt von der Polizey, weil die alte Synagoge der Einsturz droht, und gedrängt durch die Notwendigkeit der Einrichtung eines Frauenbades, auf der anderen Seite ohne Mittel die Baukosten bestreiten zu können”17 bat die Gemeinde im Januar 1841 um Erlaubnis, eine Sammlung durchführen zu dürfen. Dabei gingen insgesamt 1.736 Gulden ein, allein 150 davon spendete Amschel Baron Mayer Rothschild.18

Das neue Gemeindezentrum bestand, wie schon das alte, aus der Schule mit Lehrerwohnung, die auch Gemeindezimmer barg, der Synagoge und der Mikwe.

In der Synagoge befanden sich 1875 sechs Thorarollen, eine Haftara, eine Estherrolle, drei Gebetbücher für hohe Feiertage, 21 Thoramäntel, neun Thoraschilder, zwei Stangen für die Thorarollen, ein Leuchter mit 27 Armen, einer mit sechs Armen, zwei Wandleuchter mit vier Armen, zehn Wandleuchter mit drei Armen, ein Kandelaber, ein Schofar, drei Thorazeiger mit Haken, Kette und Ring, eine Bosominbüchse, ein Kidduschleuchter und einiges mehr.19

Im Jahr 1900 erhielt die Synagoge elektrisches Licht.

1913 brach in der Synagoge ein Feuer aus, konnte aber bald wieder gelöscht werden.20 Bis 1929 war sie sanierungsbedürftig geworden und wurde am 1. September dieses Jahres nach umfangreichen Arbeiten neu eingeweiht. Unter anderem wurde dabei eine Gedenktafel für die jüdischen Gefallenen enthüllt. Eine Zeitung schrieb anlässlich der Neueinweihung, dass die 1844 in romanischem Stil erbaute Synagoge nach außen schlicht und nach innen eine sehr gefällige Architektur zeige. „Die Vorbeterempore mit dem Heiligtum, in welchem die Thorarollen …, ist ein Meisterstück orientalischer Ritenarchitektur. Ein herrlicher Schmuck der Synagoge sind der viellampige kunstvolle Kronleuchter und die elektrische Beleuchtung der Vorbeterempore, über deren Mitte in einer flammenartigen Birne das rituelle ewige Licht erstrahlt. Die an Mitgliedern sehr kleine, nicht finanzkräftige hiesige israelitische Gemeinde hatte die Mittel zur Renovierung ihres Gotteshauses durch eine wohltätige Stiftung des Hauses Adam Opel erhalten.“ An den Feierlichkeiten nahmen Vertreter der Stadt, des Schul- und des Kirchenvorstandes und weitere Honoratioren teil. Dabei wurden fünf Thorarollen in ihrer kostbaren Umhüllung überführt und „in die durch einen Vorhang verdeckte heilige Lade verbracht.“21

In der Pogromnacht drangen SA-Leute in die Synagoge ein, zerstörten weite Teile der Inneneinrichtung und verbrannten den Rest außerhalb im Garten. Einzig weil ein christliches Hausmeisterehepaar im Obergeschoss zur Miete wohnte, blieb das Gebäude selbst verschont. Nach Auflösung der Gemeinde kaufte es am 28. November 1938 der Architekt Ferdinand Wagner für 4.000 Reichsmark, obwohl Gebäude und Grundstück auf über 11.000 Reichsmark geschätzt worden waren. Wagner baute es in ein Wohnhaus um, das er bald weiter veräußerte.22 Im Zuge eines Vergleiches musste er später rund 7.800 DM nachzahlen.

Nach mehrfachem Besitzerwechsel und Nutzung als Wohnhaus ging das Gebäude im November 2005 in den Besitz der Gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft über, die es 2006 umbaute. Eine Zeit lang nutzte die UNICEF-Gruppe Rüsselsheim das Erdgeschoss als Domizil, seit deren Auszug wird es wieder als Wohnung genutzt. Seit 2008 kümmert sich die Stiftung Alte Synagoge Rüsselsheim um den Erhalt des Gebäudes.

Weitere Einrichtungen

Mikwe

Um 1841 erfolgte der Bau einer Mikwe auf dem Synagogengrundstück. Darin befanden sich 1875 ein Tisch, drei Stühle, eine Badebütte mit Rohr, ein Spiegel, ein Vorhang, ein Teppich, eine Vorlage, eine Gießkanne, ein Ofen mit Rohr und ein Kohlenkasten.23

Im Jahr 1900 wurde auf Veranlassung des Rabbiners Dr. Marx und des örtlichen Gemeindevorstands die Mikwe wieder entsprechend den rituellen Vorgaben hergestellt.24 Diese Notiz in der Zeitung Der Israelit rief eine Reaktion hervor, die die tatsächlichen Zustände ein wenig erhellt. Der Verfasser berichtigte diese Meldung insofern, als „dass ohne Mithilfe des Vorstandes nur aus ganz privaten, oder aus den Mitteln des hiesigen Frauenvereins für die Mikwe etwas getan wurde. An eine vollständige rituelle Instandsetzung ist bis jetzt noch nicht zu denken und müssen deshalb, die Besucher derselben bei strengster Kälte, um der Mizwoh Genüge zu leisten, bis heute noch, nach Mainz oder Frankfurt reisen. Auch ist von Seiten des Herrn Rabbiners Dr. Marx weder eine Besichtigung noch eine Begutachtung erfolgt. Es kann daher von einer rituellen Herstellung vorerst noch keine Rede sein. Es wäre sehr zu wünschen, wenn endlich einmal Schritte getan würden, dass diese Mizwoh erfüllt werden kann, denn durch eine derartige Vernachlässigung wird der Bequemlichkeit halber diese große Mizwoh nicht geübt.”25

Schule

Seit Bestehen der Synagoge gab es auf dem Grundstück auch eine Schule. Der erste nachweisbare Schullehrer war Schmay Simon, der 1774 aus dem seit vier Jahren bestehenden Dienstverhältnis ausschied.26 Zum Inventar gehörten im Juni 1875 im Schulraum vier Pulte, ein Tisch, ein Stuhl, eine Lampe, vier Vorhänge, ein Ofenrohr und ein Kohlenkasten.27

Cemetery

Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehörte die jüdische Gemeinde Rüsselsheim zum Friedhofsverband Groß-Gerau. 1923/25 legte die Gemeinde auf dem Rüsselsheimer Waldfriedhof im Osten der Stadt eine eigene Begräbnisstätte an. Die erste Bestattung fand Sonntag vor dem 26. Juli 1923 statt. Es handelte sich um den beim Autoschmuggel von einem französischen Kontrollposten erschossenen Ludwig Linz. Während des Dritten Reiches wurden auch hier die Gräber geschändet und eingeebnet, die Grabsteine an entlegener Stelle vergraben. Fünf von ihnen fand man bei Erweiterungsarbeiten 1967 wieder und stellte sie am Rande des Friedhofs auf. Dort, wie auch an ihrem ehemaligen Standort, erinnern zwei Gedenktafeln an den früheren jüdischen Friedhof.28

Groß-Gerau, Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen
Rüsselsheim, ehemaliger Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen

References

Weblinks

Sources

Bibliography

Illustrations

Fußnoten
  1. HStAM 3, 1818
  2. HStAM 86, 27808
  3. HStAD E 8 A, 75/9
  4. HStAD R 1 A, 38/33
  5. Cohen: Landjudenschaften, S. 156
  6. Cohen: Landjudenschaften, S. 155
  7. Diehl: Groß-Gerauer Synagogen
  8. Juden in Rüsselsheim, S. 3
  9. Schleindl: Verschwundene Nachbarn, S. 267
  10. Schleindl: Verschwundene Nachbarn, S. 266
  11. HStAD G 15 Groß-Gerau, L 28
  12. Schleindl: Verschwundene Nachbarn, S. 267
  13. Schleindl: Verschwundene Nachbarn, S. 268
  14. StadtA Rüsselsheim Abt. XXXVII, 3 Konv. 5, Fasc. 15
  15. StadtA Rüsselsheim Abt. XXXVII, 3 Konv. 5, Fasc. 16
  16. StadtA Rüsselsheim Abt. XXXVII, 3 Konv. 5, Fasc. 17 und 17a
  17. HStAD G 15 Groß-Gerau, L 28
  18. Juden in Rüsselsheim, S. 17
  19. Juden in Rüsselsheim, S. 18
  20. Frankfurter Israelitisches Familienblatt, 14. Februar 1913
  21. HStAD Q 2, 43
  22. Scholten: Einladung zu einem Rundgang, S. 8
  23. Juden in Rüsselsheim, S. 18
  24. Der Israelit, 3. Januar 1901
  25. Der Israelit, 21. Januar 1901
  26. HStAD R 21 J, 402
  27. Juden in Rüsselsheim, S. 18
  28. Scholte: Einladung zu einem Rundgang, S. 15
Recommended Citation
„Rüsselsheim (Landkreis Groß-Gerau)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/syn/id/50> (Stand: 1.9.2022)