Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Synagogen in Hessen

Reichensachsen Karten-Symbol

Gemeinde Wehretal, Werra-Meißner-Kreis — Von Hans Isenberg
Basic Data | History | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | References | Indices | Recommended Citation
Basic Data

Juden belegt seit

1600

Location

37287 Wehretal, Ortsteil Reichensachsen, Herrengasse 11 | → Lage anzeigen

Rabbinat

Niederhessen (Kassel)

preserved

nein

Jahr des Verlusts

1956

Art des Verlusts

Abbruch

Gedenktafel vorhanden

nein

Weitere Informationen zum Standort

Historical Gazetteer

History

1600 wurden in dem boyneburgischen Dorf Reichensachsen erstmals vier Juden genannt, sie hatten „Silber zu liffern“1. Mit Familienangehörigen dürfte es sich um 15 bis 20 Personen gehandelt haben. Auch während des Dreißigjährigen Krieges lebten – zumindest zeitweise – Juden in Reichensachsen. Ab etwa 1665 erfolgte eine gezielte Ansiedlung von jüdischen Kaufleuten und Händlern durch den im Ort ansässigen Adel. Bis 1698 hatte sich die Zahl der Familien auf 17 erhöht2, so dass von insgesamt etwa 65 bis 70 Personen ausgegangen werden kann. Nach einem Rückgang auf 50 Personen bis 17463 stieg die Gesamtzahl der jüdischen Einwohner bis 1772 auf 81 an4. Von den damals 16 jüdischen Familien befanden sich neun unter dem Schutz der Boyneburger Familienzweige, vier unter dem der von Eschwege, zwei unter dem „gnädigster Herrschaft“, d.h. unter landgräflichem Schutz, und eine unter dem des Klosters Germerode. 1823 hatte sich die Zahl der jüdischen Einwohner in Reichensachsen auf 150 erhöht5, 1861 war der Höhepunkt mit 236 erreicht. Danach verminderte sich die Zahl aber rasant, da die tüchtigsten und wohlhabendsten Familien in Reichensachsen keine Entfaltungsmöglichkeiten mehr sahen. Sie zog es nach Berlin, Leipzig, Frankfurt und ins Rheinland. Um 1900 sank die Zahl unter 100.

Zur Synagogengemeinde Reichensachsen gehörten auch die in Bischhausen, Wichmannshausen und Datterode lebenden Juden. 1857 erwirkten die Bischhäuser die Trennung und bildeten mit staatlicher Genehmigung eine eigene Gemeinde.6 1885 genehmigte die Provinzialregierung in Kassel auch die Trennung der Datteroder Juden von Reichensachsen und ihren Beitritt zur Synagogengemeinde Netra.7

Betsaal / Synagoge

Die erste Synagoge

Um 1670 lebten bereits so viele Juden in Reichensachsen, dass der Plan entwickelt wurde, eine eigene Synagoge im Ort einzurichten. Das zu diesem Zweck in der Herrengasse errichtete Fachwerkgebäude war ein Doppelhaus. Der vordere, an der Straße gelegene etwas kleinere Teil bildete die Schule, in der hinteren Haushälfte fand der Gottesdienst statt.

Mehrere Indizien sprechen dafür, dass das Doppelhaus um 1675 errichtet wurde: Aus dem geretteten Protokollbuch der Reichensächser jüdischen Gemeinde8 geht hervor, dass diese 1675 13 Reichstaler von den Heiliges-Land-Geldern ausgeliehen hatte, um davon Schulden, die sie beim Ankauf einer Thorarolle eingegangen war, zu begleichen. Der Erwerb dieser Thorarolle muss im Zusammenhang mit der Errichtung einer eigenen Synagoge gesehen werden. Dafür spricht auch ein aus Anlass der Grundsteinlegung für die neue Synagoge 1902 verfasster Text, in dem es heißt: „Unsere Gemeinde besteht seit vielen Jahrhunderten, schriftliche Aufzeichnungen gehen aber nur bis zum Jahr 1674 zurück.“9 Überdies erklärten die Gemeindeältesten 1858, die Synagoge stehe „schon über 180 Jahre.“10 Wenn auch das exakte Jahr der Errichtung nicht mehr genau zu ermitteln ist, so kann doch auf Grund dieser Hinweise davon ausgegangen werden, dass es in Reichensachsen seit etwa 1675 eine Synagoge gab.

Als die Zahl der Juden in Reichensachsen in den 1850er Jahren auf über 200 anwuchs und die jüdische Schule von über 70 Kindern besucht wurde, entstand Handlungsbedarf. Das Doppelgebäude war nicht nur viel zu klein, durch Alter und Übernutzung war der bauliche Zustand mangelhaft. Der Landbaumeister entwickelte einen Plan, der darauf hinauslief, eine neue Synagoge zu bauen, die alte zu renovieren und als Schulsaal zu benutzen.11 Die neue Synagoge sollte in dem Gartengelände hinter der alten errichtet werden.

Der Plan wurde aber nicht realisiert. Ursache dafür war der Rückgang der Zahl der Juden in Reichensachsen, vor allem die Tatsache, dass es die wohlhabenden Familien waren, die den Ort verließen. So blieb alles beim Alten. Die einzige Veränderung, die erfolgte, bestand darin, dass die jüdische Gemeinde das neben Schule und Synagoge gelegene Gebäude erwarb, abriss und ein neues errichtete, das als Lehrerwohnung diente und in dessen Keller eine Mikwe eingerichtet wurde.

Die neue Synagoge

1902 kam es doch noch zum Bau einer neuen Synagoge, auch wenn nur noch 95 Juden in Reichensachsen lebten und die jüdische Schule nur noch von neun Kindern besucht wurde. Da nahezu alle wohlhabenden Familien den Ort verlassen hatten und die neue Synagoge kein einfaches Fachwerk-, sondern eher ein aufwändiges Steingebäude war, stellt sich die Frage, wie sie finanziert werden konnte. Die jüdische Gemeinde allein war ganz sicher nicht dazu in der Lage. Eine erste Antwort findet sich in einer Nachricht im „Eschweger Tageblatt“ vom 28. November 1903, in der hervorgehoben wird, dass der Bankier Fränkel aus Berlin, dessen Vorfahren in Reichensachsen ansässig gewesen waren, nahezu das gesamte Baukapital gestiftet habe.12

Eine bei der Grundsteinlegung 1902 eingemauerte Urkunde, die beim Abriss 1953 entdeckt wurde, zeigt, dass Bankier Fränkel nur der Überbringer war. Dort heißt es: „Den größten Teil der Baukosten haben aus Liebe zu Gott und aus Anhänglichkeit für unsere Gemeinde, aus der sie hervorgegangen sind, in liberaler Weise bewilligt: Herr Gustav Plaut in Hamburg, Herr Geh. Kommerzienrat Moritz Plaut in Berlin, Herr Bankier Hermann Frenkel in Berlin, Frau Fanny Liepmann, geb. Plaut in Berlin, Frau Friederike Frenkel, geb. Plaut in Nordhausen.“

Alle in der Urkunde genannten Personen waren Nachfahren von Herz Cusel Plaut, der am 26. Februar 1784 in Reichensachsen geboren worden war, als junger Mann am Befreiungskrieg gegen die napoleonische Herrschaft teilgenommen und später Caroline Blach aus Abterode geheiratet hatte. Das Ehepaar verließ die Heimat und siedelte sich in Nordhausen an, behielt aber offenbar eine starke emotionale Bindung zu Reichensachsen, die auch auf die Kinder übertragen wurde. Der Bankier Hermann Frenkel aus Berlin war ein Enkel von Herz Cusel Plaut, bei den übrigen Genannten handelt es sich um Söhne und Töchter. Alle Kinder von Herz Cusel Plaut und seiner Frau waren überaus tüchtig und äußerst erfolgreich in ihren Berufen, zeigten dabei aber auch ein ungewöhnliches Maß an sozialer Verantwortung.

Die neue Synagoge, die „von außen wie von innen einen überaus prächtigen Eindruck“ machte, wurde am 25. November 1903 feierlich eingeweiht.13

Die Synagoge blieb bis November 1938 in Funktion. Während des Pogroms wurde das Innere zwar verwüstet, das Gebäude selbst blieb aber weitgehend intakt. Am 24. März 1939 ordnete der Reichsminister für kirchliche Angelegenheiten an: „Ist eine jüdische Kultusvereinigung nicht dazu in der Lage (die Reste der Synagoge zu beseitigen), dann ist es Aufgabe der zuständigen höheren Verwaltungsbehörde, einen Interessenten für das Grundstück zu finden. Gedacht ist hierbei in erster Linie an die Gemeinden.“14 Ganz im Sinne dieser Verordnung griff die Gemeinde Reichensachsen zu und erwarb zum „Schnäppchenpreis“ das in seiner Bausubstanz noch völlig intakte Gebäude. Der Plan, darin eine Badeanstalt zu errichten, wurde durch den Krieg vereitelt.

Zu Beginn der 1950er Jahre gelangten schließlich Synagoge, Lehrerwohngebäude und Schule in Privatbesitz. Das stattliche, in der Bausubstanz unversehrte, gerade einmal 50jährige Synagogengebäude wurde Mitte der 1950er Jahre, wahrscheinlich 1956, abgerissen und das Areal in einen Garten umgewandelt. Proteste gab es keine, der Wunsch nach Verdrängung war damals offenbar noch so dominant und allgemein, dass dieser „Entsorgung“ nicht widersprochen wurde. Die beiden anderen Gebäude wurden von ihren neuen Besitzern nach und nach so modernisiert, dass sie sich heute nicht von den benachbarten Wohnhäusern unterscheiden.

Weitere Einrichtungen

Cemetery

Reichensachsen, Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen

Grabstätten

Reichensachsen, Jüdischer Friedhof: Grabstätten anzeigen

References

Weblinks

Sources

Bibliography

Illustrations

Indices

Persons

Fränkel · Plaut, Gustav · Plaut, Moritz · Frenkel, Hermann · Liepmann, Fanny, geb. Plaut · Plaut, Fanny · Frenkel, Friederike, geb. Plaut · Plaut, Friederike · Plaut, Herz Cusel · Blach, Caroline

Places

Germerode, Kloster · Berlin · Leipzig · Frankfurt am Main · Bischhausen · Wichmannshausen · Datterode · Kassel · Netra · Hamburg · Nordhausen · Abterode

Sachbegriffe Geschichte

Dreißigjähriger Krieg · Heiliges-Land-Gelder · Pogrome

Sachbegriffe Ausstattung

Thorarollen

Sachbegriffe Architektur

Fachwerkbauten · Doppelhäuser · Steingebäude

Fußnoten
  1. HStAM 40 a Rubr. 16, 47
  2. HStAM 40 a Rubr. 16, 123
  3. HStAM 4 c Hessen-Rheinfels und -Rotenburg, 2478
  4. HStAM 17 II, 1773
  5. HStAM 18, 2634
  6. HStAM 17 h, 1845
  7. HStAM 165, 1143
  8. Cohen, Daniel: Die Landjudenschaften in Deutschland als Organe jüdischer Selbstverwaltung von der frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert. Eine Quellensammlung. Hrsg. von der Israelischen Akademie der Wissenschaften, Jerusalem 1996 und der Akademie der Wissenschaften, Göttingen 1996, Bd. 1. S. 475 f.
  9. Siebert, Geschichten, S. 15
  10. Diese Aussage der Gemeindeältesten wird in einem Schreiben des Landratsamts Eschwege an die Regierung der Provinz Niederhessen vom 8. Juni 1858 zitiert. HStAM 17 h, 1845
  11. HStAM 17 h, 1845
  12. Eschweger Tageblatt vom 28.11.1903
  13. Bericht darüber im Eschweger Tageblatt vom 25.11.1903
  14. HStAM 180 Eschwege, 1428
Recommended Citation
„Reichensachsen (Werra-Meißner-Kreis)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/syn/id/246> (Stand: 23.7.2022)