Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Synagogen in Hessen

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5914 Eltville (Rhein)
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Herzogtum Nassau 1819 – 51. Rüdesheim

Oestrich Karten-Symbol

Gemeinde Oestrich-Winkel, Rheingau-Taunus-Kreis — Von Carina Schmidt
Basic Data | History | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | References | Indices | Recommended Citation
Basic Data

Juden belegt seit

um 1697

Location

65375 Oestrich-Winkel, Stadtteil Oestrich, Kranenstraße 21 | → Lage anzeigen

preserved

nein

Jahr des Verlusts

1956

Art des Verlusts

Abbruch

Gedenktafel vorhanden

nein

Weitere Informationen zum Standort

Historical Gazetteer

History

Oestrich war nachweislich schon in frühfränkischer Zeit besiedelt. Bis ins 13. Jahrhundert bildete der Ort zusammen mit Winkel und Mittelheim eine Gemeinde, die sogenannte Urmark Winkel. Als Distriktbezeichnung taucht im 12. Jahrhundert bereits der Name „Hostrich“ auf, als eigenständige Gemeinde wird Oestrich erstmals 1254 genannt. Der Ort gelangte in ottonischer Zeit unter die Herrschaft des Erzbistums Mainz und fiel bei der Säkularisation 1803 an das Fürstentum Nassau-Usingen. 1816 wurde er dem Herzogtum Nassau und 1866 Preußen einverleibt. Heute ist Oestrich ein Ortsteil der Stadt Oestrich-Winkel im hessischen Rheingau-Taunus-Kreis.1

Seit wann Juden in Oestrich ansässig waren, lässt sich aufgrund der dürftigen Quellenlage nicht genau nachvollziehen. Nachweislich gab es seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert einzelne jüdische Einwohner. Um 1697 wurde beispielsweise der Jude Löw Benedict in den Schutz nach Oestrich aufgenommen, nach seinem Tod bemühten sich 1717 seine beiden Söhne Benedict und Isaac Löw um die Rezeption als Schutzjuden. Es ist davon auszugehen, dass in Oestrich bis ins 19. Jahrhundert, wie in kurmainzischen Territorien üblich, stets nur etwa ein bis drei jüdische Familien geduldet wurden. Dennoch bildete Oestrich 1739 – neben Eltville – eines von zwei jüdischen Kultuszentren im Rheingau. Mit Sicherheit kamen Juden aus benachbarten Ortschaften wie etwa Mittelheim und Hallgarten zum Gottesdienst nach Oestrich, denn ohne sie hätte kein Minjan gebildet werden können. Gemeindediener und Schulklepperer zu Oestrich war damals Susmann Abraham, der wegen seines Amtes, wie üblich, vom Schutzgeld befreit wurde.2

Bis zum Beginn der 1780er Jahre veränderten sich die Kultusverhältnisse zeitweilig: Nun besuchten die Juden von Oestrich, Hallgarten und Mittelheim die Synagoge in Geisenheim im Amt Rüdesheim. Zu diesem Zeitpunkt lebten in Oestrich 13 Juden, vier Männer, zwei Frauen und sieben Kinder.3 Doch ab etwa 1814 gab es in Oestrich erneut einen Betraum. Möglicherweise war die Verlagerung des Kultuszentrums der wachsenden Zahl jüdischer Einwohner geschuldet, denn 1835 war die jüdische Gemeinde in Oestrich auf 34 Mitglieder angewachsen. Anfang der 1841er Jahre wurde sie formal der Kultusgemeinde Eltville angeschlossen. Seither leisteten die Oestricher zwar ihren Beitrag zur gemeinsamen Kultuskasse, weigerten sich aber, regelmäßig zum Gottesdienst nach Eltville zu gehen. Vielmehr behielten sie, zunächst ohne landesherrliche Erlaubnis, ihre Privatsynagoge im Haus des Seligmann Rosenthal in Oestrich bei, obwohl es für die kleine Gemeinde mitunter schwierig war, einen Minjan zu bilden. Um 1844 schloss der Ortsschultheiß den Betsaal zeitweilig. Bis 1850 wurde der Gottesdienst zu Oestrich schließlich doch genehmigt, außerdem gestattete die Regierung den Juden aus dem nahe gelegenen Winkel im Amt Rüdesheim, die Synagoge in Oestrich zu besuchen. Als Vorbeter war damals, wenn auch ohne Erlaubnis, der Jude Michael Dahlberg aus Johannisberg, das zur Kultusgemeinde Rüdesheim gehörte, tätig.4

1862 klagt der Rechner der jüdischen Gemeinde, Jonas Strauß von Oestrich, in einem Beschwerdebrief an die Landesregierung über die unhaltbaren Zustände in der dortigen Synagoge. Diese würde bei den Versammlungen regelmäßig zum „Zank-, Lach- und Spotthaus“. Während der Gottesdienste werde geredet und gelacht, und jeder würde kommen und gehen, wie es ihm beliebt, ohne Rücksicht darauf, dass der Gottesdienst dadurch unterbrochen wird. Außerdem, so beschwert sich Strauß, lasse der Eigentümer der Synagoge, Seligmann Rosenthal, niemanden in die Betstube, den er nicht mag. Sollte jemand Ungebetenes bereits im Betsaal sein, wenn er eintrifft, so würde Seligmann samt seinen Freunden einfach wieder gehen und der Gottesdienst müsse dann aus Mangel an religionsmündigen Männern ausfallen. Strauß bat die Regierung darum, die Ordnung in der Synagoge wiederherzustellen oder sie wieder zu schließen.5

Doch der Gottesdienst in Oestrich wurde beibehalten. 1865 gab es sechs steuerpflichtige Juden vor Ort, Salomon Heymann, Löb Pikard, Emanuel Rosenthal, Seligmann Rosenthal, Jonas Strauß und Max Strauß. Insgesamt gab es also rund 20 jüdische Einwohner.6 Bis 1905 stieg deren Zahl auf 36 an, 1933 lebten noch 25 Juden vor Ort. Einige von ihnen wanderten in den folgenden Jahren ab oder emigrierten. Doch mehrere Mitglieder der Familien Rosenthal und Strauß wurden Opfer der NS-Verfolgung. Beim Novemberpogrom 1938 überfielen und verwüsteten SA-Männer und ortsansässige Aktivisten die jüdischen Wohn- und Geschäftshäuser in Oestrich, darunter die Weinhandlung von Eduard Rosenthal in der Kranenstraße 19, die Wein- und Viehhandlung von Leopold Strauß im Brandpfad 13, den Manufakturwarenladen von Ernst Strauß in der Landstraße 37 sowie die Wohnung der Witwe des Jakob Strauß und ihrer Kinder in der Römerstraße 6.7

Betsaal / Synagoge

Seit etwa 1814 befand sich der Betsaal der jüdischen Gemeinde in Oestrich in der Hofreite des Mange Rosenthal gelegen am Knobusborn (heutige Römerstraße). Das Wohnhaus samt Stall und Hofraum ging in den 1840er Jahren in den Besitz von Seligmann Rosenthal über. Die Judenschule war ein zweistöckiges Fachwerkgebäude von 6,5 Metern Länge und 11 Metern Tiefe und bildete einen Nebenbau zu dem Haupthaus. 1882 übernahmen Simon Rosenthal und seine Geschwister das Anwesen. Genutzt wurde dieser Betsaal bis in die 1920er Jahre, als die Synagoge so baufällig war, dass sie abgerissen wurde.8

Daraufhin mietete die Kultusgemeinde eine Scheune in der Hallgartener Straße 6, in der sie einen Betraum einrichtete, der bis um 1937 genutzt wurde. Danach stellte Eduard Rosenthal im Hinterhof seines Wohnhauses in der Kranenstraße 21 einen Betsaal zur Verfügung. Dieser war im Obergeschoss des Gesindehauses, eines kleinen Fachwerkgebäudes, untergebracht. Sämtliche Kultgegenstände wurden dorthin verbracht, wo die Juden bis zur Pogromnacht Gottesdienste feierten. Im November 1938 verwüsteten Oestricher und auswärtige SA-Leute unter Beteiligung der Bevölkerung u.a. das Rosenthalsche Wohnhaus und den Betraum. Die Aktivisten zerschlugen den Thoraschrein, warfen die Kultgegenstände auf den Hof und zerstörten bzw. entwendeten sie. Die Thorarolle aus Pergament wurde gestohlen, in Einzelblätter zerlegt und über den Antiquitätenhandel verkauft. 1972 gelangte Paul Rosenthal, der Neffe von Eduard Rosenthal, der inzwischen in Israel nahe Tel Aviv lebte, in den Besitz von zwei Seiten der früheren Thorarolle. Eine befreundete Oestricher Familie hatte die Pergamente entdeckt und sie Paul Rosenthal zum Geschenk gemacht. Da die Stücke unversehrt waren, gestattete der Rabbiner ihm, sie als Andenken zu behalten. Das Rosenthalsche Wohnhaus in der Kranenstraße ist erhalten geblieben, das Synagogengebäude dagegen wurde 1956 abgebrochen.9

Weitere Einrichtungen

Schule

Die jüdischen Schulkinder aus Oestrich wurden bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein von Privatlehrern unterrichtet. So bestellten Moses Abraham und Moses Manche von Oestrich 1821 Jacob Engelmann von Sulzbach als Religionslehrer. Seit den 1840er Jahren erteilte in der Regel eine von der Kultusgemeinde Eltville angestellte Lehrkraft den ortsansässigen Kindern Unterricht. Seit 1870 war Lehrer S. Ackermann aus Villmar in der Gemeinde tätig. Er versah diesen Dienst bis in die 1890er Jahre und stellte zeitweilig ein Schulzimmer in seinem Wohnhaus in Eltville zur Verfügung. Ansonsten fanden die Schulstunden in Oestrich in der Wohnung des M. Rosenthal bzw. in der Synagoge in Eltville statt. Zuletzt war Lehrer Arnold Katzenstein aus Schierstein in der Kultusgemeinde tätig.10

Cemetery

Bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts wurden die Juden aus dem kurmainzischen Rheingau auf dem Mainzer Judensand beigesetzt. Seit 1673 gab es einen zentralen Sammelfriedhof in der Oestricher Gemarkung, auf dem seither alle jüdischen Rheingaugemeinden ihre Verstorbenen beerdigten. Da dieser Totenhof sich nahe der Grenze zur Ortsgemeinde Hallgarten befindet, wird er in älteren Quellen auch als Hallgartener Judenfriedhof bezeichnet. Auf dem 4.812 Quadratmeter großen Gelände stehen gegenwärtig noch 146 Grab- und Gedenksteine, der älteste datiert von 1693. Ein anderer Grabstein ist dem 1838 verstorbenen Israel Mayer von Eltville gewidmet und trägt eine Inschrift, die an die Stiftung der Eltviller Synagoge durch ihn erinnert. Nach der Lösung der jüdischen Gemeinden Eltville und Rüdesheim aus dem Friedhofsverband um 1890 wurden nur noch die verstorbenen, ortsansässigen Juden auf dem Oestricher Friedhof beigesetzt. Am Eingang zu dem Gelände stehen heute drei Gedenksteine: Einer gibt das Gründungsjahr des Totenhofs 1673 an, ein zweiter ist den Oestricher Familien Rosenthal und Strauß und deren in der NS-Zeit ermordeten Angehörigen gewidmet. Das dritte Denkmal ist eine Stele, entworfen 1963 von dem Künstler Anton Haust, die an die im nationalsozialistisch besetzten Holland verstorbene Anne Frank erinnert.11

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Grabstätten

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References

Weblinks

Sources

Bibliography

Illustration available

(in Bearbeitung)

Fußnoten
  1. Kratz: Oestrich und Mittelheim, S. 51–60; Historisches Ortslexikon des Landesgeschichtlichen Informationssystems Hessen (LAGIS) auf http://www.lagis-hessen.de
  2. Aufnahme von Juden im Rheingau und die Entrichtung des jährlichen Schutzgeldes, 1655–1789, in: HHStAW 102, 246; Befreiung vom Juden-Schutzgeld, 1689–1797 (fol. 18), in: HHStAW 102, 247
  3. Synagogen und Grabstätten der Juden im Amt Eltville, 1780–1785, in: HHStAW 101, 326; Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Juden im Rheingau sowie Verordnungen zu Handel und Vermögen der Juden, 1782–1801 (fol. 12), in: HHStAW 108, 2681
  4. Kultus der Israeliten im nassauischen Amt Eltville, 1841–1868, in: HHStAW 211, 11571; Volkszählungen im herzoglich-nassauischen Amt Eltville, Bd. 1, 1834–1858, in: HHStAW 223, 1100
  5. Kultus der Israeliten im nassauischen Amt Eltville, 1841–1868, in: HHStAW 211, 11571
  6. Kultus der Israeliten im nassauischen Amt Eltville, 1841–1868, in: HHStAW 211, 11571; Kultusverhältnisse der Juden im Rheingaukreis, (1842/1843) 1867–1925, in: HHStAW 415, 21
  7. Arnsberg: Jüdische Gemeinden, Bd. 1, S. 157; Hell: Juden von Oestrich-Winkel, 2. Teil, S. 6–8; Abschnitt „Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde“, Absatz 5-6, im Artikel „Oestrich – Jüdische Geschichte/Synagoge“ auf http://www.alemannia-judaica.de/oestrich_synagoge.htm
  8. Gebäudesteuerkataster für den Gemeindebezirk Oestrich, 1822 (Artikel 127), in: HHStAW 223, 2133; Immobilien des Seligmann Rosenthal, in: HHStAW 362/24, Stockbuch Oestrich, Bd. 3, Artikel 260; zur Umrechnung der Maßeinheiten siehe Verdenhalven: Meß- und Währungssysteme, S. 19–20; Altaras: Synagogen, S. 370; Abschnitt „Zur Geschichte der Synagoge“, Absatz 1, im Artikel „Oestrich – Jüdische Geschichte/Synagoge“ auf http://www.alemannia-judaica.de/oestrich_synagoge.htm
  9. Altaras: Synagogen, S. 370; Hell: Juden von Oestrich-Winkel, 2. Teil, S. 7–8; Abschnitt „Zur Geschichte der Synagoge“, Absatz 2–4, im Artikel „Oestrich – Jüdische Geschichte/Synagoge“ auf http://www.alemannia-judaica.de/oestrich_synagoge.htm; Wiesinger: Geraubte Thora-Seite fand Weg nach Israel
  10. Gesuche der Judenschaft zu Oestrich um Erlaubnis zur Annahme von ausländischen Religionslehrern, 1821–1836, in: HHStAW 211, 11573; Kultus der Israeliten im nassauischen Amt Eltville, 1841–1868, in: HHStAW 211, 11571; Kultusverhältnisse der Juden im Rheingaukreis, (1842/1843) 1867–1925 (fol. 44), in: HHStAW 415, 21; Abschnitt „Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde“, Absatz 9, im Artikel „Eltville – Jüdische Geschichte/Synagoge“ auf http://www.alemannia-judaica.de/eltville_synagoge.htm
  11. Heinemann: Der jüdische Friedhof in Oestrich, S. 11–18; Friedhöfe im Amt Eltville, 1817–1870, in: HHStAW 223, 1458; Kultusverhältnisse der Juden im Rheingaukreis, (1842/1843) 1867–1925, in: HHStAW 415, 21
Recommended Citation
„Oestrich (Rheingau-Taunus-Kreis)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/syn/id/73> (Stand: 24.4.2022)