Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Synagogen in Hessen

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4820 Bad Wildungen
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Fürstentum Waldeck und Pyrmont 1866

Bad Wildungen Karten-Symbol

Gemeinde Bad Wildungen, Landkreis Waldeck-Frankenberg — Von Johannes Grötecke
Basic Data | History | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | References | Indices | Recommended Citation
Basic Data

Juden belegt seit

15. Jahrhundert

Location

34537 Bad Wildungen, Dürrer Hagen 11 | → Lage anzeigen

Rabbinat

Kassel

preserved

nein

Jahr des Verlusts

1938

Art des Verlusts

Zerstörung

Gedenktafel vorhanden

ja

Weitere Informationen zum Standort

Historical Gazetteer

History

Seit dem 15. Jahrhundert sind Juden in Nieder-Wildungen nachweisbar.1 Aber erst mit dem Aufstieg zum Kurbad mit Weltruf ließen sie sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vermehrt in der Stadt nieder. Erst nach einigen landesherrlichen Bemühungen entstand 1877 eine eigenständige jüdische Gemeinde, die dem Rabbinatsbezirk Kassel zugeordnet war.

Lebten 1847 nur 24 Juden in Nieder-Wildungen (das entsprach 1,2 Prozent der Einwohnerschaft), waren es 1871 bereits 66 (3 Prozent), 1880 77 (3,3 Prozent), 1895 60 (1,8 Prozent) und 1910, die Stadt trug inzwischen offiziell den Namen Bad Wildungen, 119 (3 Prozent). Neben Viehhändlern gab es – und darin spiegeln sich die sich eröffnenden beruflichen Möglichkeiten des wachsenden Kurbetriebs – vor allem Kaufleute, Textilhändler, einen Kinobetreiber, zwei Ärzte sowie zwei Hoteliers, die sich mit ihren streng koscher geführten Häusern speziell an jüdische Kurgäste wandten.

1933 lebten knapp 150 Juden (2,5 Prozent der Bevölkerung) in etwa 40 Familien im Ort.2 In der Zeit des Nationalsozialismus erhöhte sich der Druck auf die Bad Wildunger Juden, die Stadt zu verlassen. 1939 wurden die letzten noch verbliebenen 30 Juden aus der Stadt nach Kassel vertrieben. Etwa die Hälfte der 1933 in Bad Wildungen lebenden Juden wurde in der Schoah ermordet.3

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges existierte bis mindestens 1951 wieder eine jüdische Gemeinde. Ihr gehörten neben wenigen überlebenden einheimischen Jüdinnen vor allem osteuropäische Schoah-Überlebende und US-Soldaten an.4 Nach der Deutschen Einheit ließen sich etwa 100 sogenannte Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion in Bad Wildungen nieder. Zur Gründung einer neuen jüdischen Gemeinde kam es jedoch nicht. Viele Bad Wildunger Juden sind stattdessen Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Kassel.

Betsaal / Synagoge

Bereits Ende des 18. Jahrhundert bestand eine Synagoge im Haus des Vaters von Isaak Wallach, zeitweise zu Beginn des 19. Jahrhunderts sogar eine zweite im Haus des Heinemann Israel. Ein halbes Jahrhundert später wird eine Synagoge im Haus des Carl Maus erwähnt (heute: Kornstraße 18).5

Die „alte Synagoge“ (Thea Altaras) befand sich in der Altstadt. Es handelte sich um einen Saal im sogenannten Waisenhof. Der Hauptzugang erfolgte durch eine große zweiflügelige Tür. Die Frauen betraten das Gebäude vermutlich über einen Hofeingang. Sie waren während des Gottesdienstes von den Männern getrennt. Während einige Quellen die Existenz dieses Betraumes ab 1890 datieren, gehen andere von einer Nutzung seit 1850 aus.6 Die Gründung der Jüdischen Gemeinde im Jahr 1877 lässt jedenfalls einen früheren Nutzungsbeginn vermuten.

Mit dem Anwachsen der Jüdischen Gemeinde nach der Wende zum 20. Jahrhundert erwies sich der bisherige Betsaal als zu klein. Ab 1913 errichtete die jüdische Gemeinde deshalb einen großen Synagogenneubau im Dürren Hagen. Als Architekten gewann sie Ernst Cohn (1883–1916). Viele bauliche Parallelen legen nahe, dass Cohn sich für Bad Wildungen von den Synagogenbauten in Augsburg, Essen, Görlitz, Mainz, Offenbach und Wörlitz inspirieren ließ.7 Zugleich fiel der Bau in eine Epoche, in der Synagogenarchitekten nach einer identitätsstiftenden ‚typisch jüdischen‘ Architektur suchten und dabei oft auf antike Vorbilder zurückgriffen. Die zunächst für Anfang August 1914 geplante, wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs jedoch verschobene Einweihung fand schließlich zum jüdischen Neujahrsfest (21./22. September 1914) statt. Die Baukosten beliefen sich auf 50.000 Reichsmark, die von der jüdischen Gemeinde und zum Teil von Badegästen jüdischen Glaubens aufgebracht wurden.

Die Synagoge wurde aus Beton und Ziegelsteinen errichtet. Sie war, begünstigt durch ihre Lage an einem steilen Hang am Rand der Altstadt, in der Silhouette der Stadt deutlich sichtbar. Zwischen den beiden rechteckigen Anbauten von je knapp zwölf Metern Breite stach der 17 Meter hohe, zylinderförmige Rundbau mit einem Durchmesser von knapp 13,50 Metern hervor, den eine große kupfergedeckte Kuppel zierte. Über eine breite Treppe und einen offenen Vorhof erreichten die Synagogenbesucher zunächst den Vorraum. Durch drei nebeneinander eingebaute Doppeltüren gelangten sie in den Innenraum. Diesen gegenüber befand sich der Almemor. Die Bima stand in der Raummitte. Offensichtlich bemühte sich der Architekt, reformorientierten wie orthodoxen Gläubigen gleichermaßen den Besuch der Gottesdienste zu ermöglichen: Während er sich bei der Stellung der Bima inmitten der Beter eher an traditionellen Synagogen orientierte, kamen die Anordnung von Thoraschrein, Vorbeter- und Predigtpult sowie Chorempore eher dem reformorientierten Gottesdienstritus entgegen. Die Anschaffung einer Orgel – eher für Reformsynagogen üblich – scheint 1929/30 zumindest angedacht worden zu sein.

Besucher sahen beim Blick in die Kuppel „einen Himmel voller Sterne“.8 Zum weiteren Inventar der Synagoge zählten unter anderem zehn Thorarollen, ein Trauhimmel, drei Kronleuchter und ein großer Perserteppich.9 Auf Eichenholzbänken fanden 124 Männer und auf der Empore 74 Frauen Platz. Zusätzlich gab es zwölf Plätze für den Chor. Im Sockelgeschoss wurde die Wohnung des Gemeindelehrers mit acht Räumen eingerichtet. 1929 brachte die Ortsgruppe des Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten eine marmorne Gedenktafel für die im Ersten Weltkrieg Gefallenen der jüdischen Gemeinde in der Synagoge an.

Der Bau war für kleinstädtische Verhältnisse außergewöhnlich groß. Obwohl „abseits der Zentren der architektonischen Avantgarde errichtet“, zeigte er „doch eine Erscheinung und Formensprache, wie man sie in den Metropolen der Zeit erwarten konnte“.10 Auch die Inschrift über dem Eingangsportal ist ungewöhnlich und wohl einzigartig. Sie lautete: „Lobet den Herren – Anfang der Weisheit ist die Furcht vor dem Ewigen! Gute Einsicht für alle, die sie ausüben“ (Psalm 111,10). Von besonderem Wert waren zudem die hohen, bunten Rundbogenfenster: Als eine der ersten Synagogen im deutschsprachigen Raum nahm man hier in exponierter Form „die zyklische Darstellung der Zwölf Stämme Israels in Form von Stammessymbolen in die Gestaltung“ auf.11 Insgesamt war die Bad Wildunger Synagoge Ausdruck eines gewachsenen Selbstbewusstseins der jüdischen Gemeinde und einer gelungenen Integration in die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft. Darauf wies auch der Besuch des Gotteshauses durch den protestantischen Außenminister Gustav Stresemann hin, der sich Mitte der 1920er Jahre mehrfach zur Kur in der Stadt aufhielt.

Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten wurde die Synagoge Ziel antisemitischer Übergriffe. 1934 warfen Unbekannte fünf Kunstglasfenster ein. Allerdings legen Fotografien mit Baumängeln, wie schweren Feuchtigkeitsschäden am Mauerwerk, nahe, dass das Gebäude bereits in jenen Jahren kaum noch genutzt und gepflegt wurde.12 In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde die Synagoge in Brand gesetzt und Einrichtungsgegenstände zerstört.13 Die Feuerwehr beschränkte sich lediglich auf den Schutz der angrenzenden Gebäude. Am 11. November musste der Vorstand der jüdischen Gemeinde das Synagogengrundstück per Vertrag an die Stadt abtreten. Zumindest gelang es Gerd Buchheim, kurz vor dem Pogrom eine der Thorarollen sicherzustellen und 1939 bei seiner Flucht mit nach Bolivien zu nehmen. Anfang Dezember, nachdem mehrere Sprengversuche stattgefunden hatten, lag die Synagoge in Trümmern. Einrichtungsgegenstände des Gotteshauses, darunter auch ein Heizkörper, waren zuvor ausgebaut und in den Privatwohnungen Bad Wildunger Bürger installiert worden.

Kinder benutzten das Synagogengelände während des Krieges als Spielplatz. Direkt nach dem Krieg wurde auf Anregung der Schoah-Überlebenden Selma Hammerschlag auf dem Grundstück ein Gedenkstein errichtet. Nach einem Vergleich zwischen der Stadt und der Jewish Restitution Successor Organization wurde das Areal Ende 1950 zur erneuten Bebauung freigegeben und der Gedenkstein auf den jüdischen Friedhof gebracht, wo er noch heute steht.

Die kleine, bis mindestens Anfang der 1950er Jahre bestehende jüdische Nachkriegsgemeinde aus Schoah-Überlebenden und US-Soldaten nutzte für ihre Gottesdienste Räumlichkeiten im Hessischen Hof (Brunnenstraße 41) und später im Haus Heilquell (Hufelandstraße 15).14 Bis in die 1970er Jahre sollen Bücher und Urkunden dieser jüdischen Gemeinde im örtlichen Rathaus gelagert gewesen sein. Über ihren Verbleib ist nichts bekannt.

Eine 1985 erstellte Gedenktafel widmet sich der ehemaligen Synagoge, wurde jedoch etwa 200 Meter unterhalb des einstigen Standorts im Dürren Hagen angebracht. Ende 2013 erinnerte die Ausstellung „Ein Himmel voller Sterne. Synagoge Bad Wildungen. Eine Spurensuche“ im Stadtmuseum an das markante Gebäude. Dazu wurden auch ein physisches und ein virtuelles Modell der einstigen Synagoge erstellt. Oberhalb des einstigen Standortes verweisen seit 1985 eine Gedenktafel sowie seit 2006 vier „Stolpersteine“ für die Mitglieder der beiden letzten, im Gebäude lebenden jüdischen Lehrerfamilien Hecht und Godlewsky an die ehemalige Synagoge.

Weitere Einrichtungen

Mikwe

1924 wurde im untersten Geschoss der Synagoge eine Mikwe eingerichtet.

Schule

In der Synagoge gab es eine zweiklassige Religionsschule, deren Räume zugleich als Wochentagssynagoge genutzt wurden. Bis zu seinem Ruhestand 1934 wirkte hier Jonas Hecht als Lehrer. Im folgte bis 1938 Hermann Stern. Der letzte Lehrer der Gemeinde, Elias Godlewsky, wurde im Zuge des Novemberpogroms von 1938 mit anderen erwachsenen Juden in „Schutzhaft“ genommen und ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Godlewsky floh 1939 mit seiner Frau nach Großbritannien. Jonas und Henriette Hecht wurden 1941 in Kowno ermordet.

Cemetery

Der jüdische Friedhof liegt in der heutigen Weinbergstraße (zwischen den Hausnummern 13 und 21). Auf ihm befinden sich auch Gräber verstorbener jüdischer Badegäste.15 Im Fetten Hagen 18 befand sich die Totenhalle der jüdischen Gemeinde.

Bad Wildungen, Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen

Grabstätten

Bad Wildungen, Jüdischer Friedhof: Grabstätten anzeigen

References

Weblinks

Sources

Bibliography

Illustration available

(in Bearbeitung)

Indices

Persons

Isaak Wallach · Heinemann Israel · Maus, Carl · Cohn, Ernst · Stresemann, Gustav · Buchheim, Gerd · Hammerschlag, Selma · Hecht, Familie · Godlewsky, Familie · Hecht, Jonas · Stern, Hermann · Godlewsky, Elias · Hecht, Henriette

Places

Nieder-Wildungen · Kassel · Sowjetunion · Augsburg · Essen · Görlitz · Mainz · Offenbach am Main · Wörlitz · Bolivien · Großbritannien · Kowno

Sachbegriffe Geschichte

Shoah · Zweiter Weltkrieg · Deutsche Einheit · Kontingentflüchtlinge · Erster Weltkrieg · Reformsynagogen · Reichsbund jüdischer Frontsoldaten · Pogrome · Stolpersteine · Wochentagssynagogen · Novemberpogrome · Buchenwald, Konzentrationslager · Jewish Restitution Successor Organisation

Sachbegriffe Ausstattung

Almemore · Bima · Thoraschreine · Vorbeterpulte · Predigerpulte · Orgeln · Thorarollen · Trauhimmel · Kronleuchter · Perserteppiche · Gedenktafeln · Heizkörper

Sachbegriffe Architektur

Rundbauten · Kuppeln · Doppeltüren · Choremporen · Emporen · Inschriften · Rundbogenfenster · Kunstglasfenster

Fußnoten
  1. Arnsberg, Gemeinden, S. 403; Berbüsse, Geschichte 1992, S. 151 f.
  2. Grötecke, Bad Wildunger Juden, S. 245
  3. https://stolpersteine-badwildungen.de/stolpersteine.php; Grötecke, „Hier wohnte …“
  4. https://www.after-the-shoah.org/bad-wildungen-juedische-dp-gemeinde-jewish-dp-community/
  5. HStAM, 121, 10547; Arbeitsgemeinschaft, Himmel, S. 7, Anm. 2
  6. Altaras, Synagogen, S. 179 f.; Arbeitsgemeinschaft, Himmel, S. 7
  7. Arbeitsgemeinschaft, Himmel, S. 20 f.
  8. Pagelson, Against all Odds, S. 125
  9. HHStAW 518, 1252
  10. Arbeitsgemeinschaft, Himmel, S. 18
  11. Arbeitsgemeinschaft, Himmel, S. 33
  12. Arbeitsgemeinschaft, Himmel, S. 40
  13. Grötecke, Bad Wildungen in der NS-Zeit, S. 104 f.; ders., Pogromnacht, S. 77-99
  14. https://www.after-the-shoah.org/bad-wildungen-juedische-dp-gemeinde-jewish-dp-community/; Grötecke, Bad Wildungen in der NS-Zeit, S. 124
  15. Grulms/Kleibl, Friedhöfe, S. 170 f.
Recommended Citation
„Bad Wildungen (Landkreis Waldeck-Frankenberg)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/syn/id/298> (Stand: 10.6.2022)