Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Synagogen in Hessen

Michelstadt Karten-Symbol

Gemeinde Michelstadt, Odenwaldkreis — Von Wolfgang Fritzsche
Basic Data | History | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | References | Indices | Recommended Citation
Basic Data

Juden belegt seit

1560

Location

64720 Michelstadt, Mauerstraße 19 | → Lage anzeigen

Rabbinat

Darmstadt II

religiöse Ausrichtung

orthodox

preserved

ja

Gedenktafel vorhanden

ja

Weitere Informationen zum Standort

Historical Gazetteer

History

Der erste Hinweis auf Juden in Michelstadt stammt aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als 1560 Israel Wolf aus Königstein und Rabbi Hirtz aus Friedberg die Gräflich Erbachische Münze gepachtet hatten und dort tätig waren.

Erst gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges siedelten sich Juden in Michelstadt an. Nachrichten darüber stammen von 16451, als David namentlich genannt wurde. 1646 musste die Frau von Löw Strafe zahlen, weil sie am Sonntag einen Kohlkopf in ihrem Garten gesetzt hatte2. Die Zahl der jüdischen Familien wuchs in der Folgezeit an und lag um 1700 bei sieben. 1791 lag die Zahl jüdischer Einwohner bei 104, um 1860 mit 192 Einwohnern ihren höchsten Stand zu erreichen.3 Zu der Michelstädter Gemeinde zählten auch die in Steinbach lebenden Juden, deren Zahl um 1840 bei 20 lag. Sie wohnten dort überwiegend in der heutigen Bahnhofstraße.

Während die Grafen von Erbach durchaus die Ansiedlung von Juden in ihrem Land förderten, so durfte sich in der Residenzstadt Erbach kein Jude niederlassen. Allerdings bediente sich das Grafenhaus so genannter Hofjuden, darunter um 1770 Abraham Joseph und später Moses Emanuel Speier, die beide in Michelstadt wohnten. Moses Speier wurde 1798 als Hoffaktor an den gräflichen Hof berufen, um dort unter anderem die Geldgeschäfte zu tätigen. Im Gegenzug genoss er die gleichen Freiheiten wie die übrigen Beschäftigten des Hauses.4 Zudem war er zugleich Vorsteher der Michelstädter Gemeinde.

Die politischen und wirtschaftlichen Veränderungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten auch zu einem Rückgang der jüdischen Bevölkerung von Michelstadt. Hatte die Gemeinde 1860 noch 200 Mitglieder, so sank die Zahl bis 1900 auf 160.

Die Familien erwirtschafteten ihr Einkommen überwiegend aus Händlertätigkeiten. Seit 1855 bestand die Zündholzfabrik Lyon & Strauss, ab 1898 auch eine Schuhfabrik Strauss.5 Zeitweise unterhielt der Lehrer Arno Bick ein jüdisches Internat.

In der Pogromnacht wurden in Michelstadt 20 Personen verhaftet und in Buchenwald interniert. Sie kehrten erst Anfang 1939 zurück.

Bis 1942/43 wurden 14 Personen aus Michelstadt deportiert und ermordet.

Der Ba´al Schem: Seckel Löb Wormser kam 1768 als siebter Sohn des Michelstädter Tuchhändlers Mattisjahu zur Welt. Früh vor allem an Geographie, Musik und Schreiben interessiert, kam er auf der Talmudschule in Frankfurt mit der Kabbala in Berührung. Schon als junger Erwachsener lebte er chassidisch und legte das Gelübde ab, niemals eine Speise zu sich zu nehmen, die von einem Tier stammte.6 In Michelstadt züchtete er eine neue Birnensorte, die Seckel-Löbs-Birne. Hier gründete er auch eine Thoraschule. In der Michelstädter Gemeinde war er nicht unumstritten, gleichwohl war er dort von 1822 bis zu seinem Tod 1847 als Rabbiner tätig. Während seines Aufenthaltes in Mannheim um 1810 soll er erstmals eine Frau von Wahnsinn geheilt haben. Dies und andere „Wundertätigkeiten“ brachte ihm den Ruf eines Ba´al Schem ein, zu dem nicht nur Juden, sondern auch Christen pilgerten. Noch im Ersten Weltkrieg besuchten nicht nur jüdische Soldaten sein Grab, um dort zu beten. Der Legende nach, soll keiner von ihnen gefallen sein.

Wormser lebte von 1825 bis zu seinem Tode 1847 im Haus Erbacher Straße 12, dem sogenannten Mayer Strauß´schen Haus. Dort wurde 1910 eine Gedenktafel angebracht mit dem Text „In diesem Hause wohnte der Menschenfreund S. L. Wormser vom Jahre 1826 bis zu seinem Tode 1847. Gewidmet von seiner Vaterstadt Michelstadt 1910.“ Diese Tafel wurde 1938 abgeschlagen; 1947 wurde eine gleichlautende neue angebracht.7

Seckel Löb Wormser verstarb am 13. September 1847, an seiner Beerdigung sollen fast 800 Menschen teilgenommen haben.

Betsaal / Synagoge

1791 ließ sich die Gemeinde in der heutigen Mauerstraße unmittelbar an die Stadtmauer eine Synagoge erbauen. Dagegen erhob die Bauzunft Einspruch, weil nicht eines ihrer Mitglieder, sondern ein Maurer aus Graswaldstadt den Auftrag hierfür erhalten hatte.8

Nach dem Anwachsen der Gemeinde bis 1860 sollte die Synagoge vergrößert werden, ein Vorhaben, das nicht realisiert wurde. Allerdings liegen zur Vorbereitung des Umbaus angefertigte Pläne des Ist-Zustandes vor.9 Danach trägt das Gebäude ein Krüppelwalmdach, dessen Firstrichtung sich in Nord-Süd-Richtung erstreckt. Die straßenseitige Giebelwand zeigt zwei Reihen halbrund überwölbter Fenster. Die Gebäudekanten sind durch Ecklisenen betont. Über dem Eingang befindet sich ein Inschriftenstein, auf dem in hebräischer Schrift ein Spruch aus dem 4. Buch Moses steht. Der Synagogenraum mit Terrazzoboden ist quadratisch und nimmt den südlichen Teil des Gebäudes ein. Er ist unmittelbar von der Straße aus zugänglich. Zentral erhob sich einst das Almemor, östlich davon lag der Thoraschrein. Entlang der Süd-, der West- und der Nordwand erstreckt sich die Frauenempore. Der Raum wird von einer Muldendecke überspannt. Nach Norden war die Mikwe angebaut. Zudem existierten zwei Schulzimmer.

Das Archiv barg alte Dokumente aus der Frühzeit der Synagoge, Matrikelbücher, Manuskripte, Erstausgaben von Büchern und Handschriften, alte Mischnajoth- und Thalmudausgaben aus dem Bestand von und mit handschriftlichen Anmerkungen des Rabbiners Seckel Löb Wormser sowie Korrespondenz des Ba´al Schem über Bibelauslegungen. Der Gesamtwert wurde nach dem Zweiten Weltkrieg auf 100.000 DM geschätzt.10

Die Inneneinrichtung bestand aus 48 Sitzplätzen für Männer und 28 für Frauen. Der Thoraschrein trug als Aufsatz eine kostbare Drechslerarbeit aus dem 17. Jahrhundert mit geschnitzten Löwen und den Gesetzestafeln. Aus der gleichen Zeit stammte auch das Almemor mit Vorlesepult und Wickelbank. In der Synagoge befanden sich zudem teilweise antike Leuchter und Hängelampen, Teppiche und eine Gedenktafel für den Ba´al Schem. Insgesamt 15 Thorarollen waren vorhanden, davon eine aus der Zeit um 1710. Mehrere Aufsätze, Wimpel, Lesefinger, Schilder, Vorhänge oder Mäntel wurden ebenfalls als antik bezeichnet.11

In der Pogromnacht überfielen 15 bis 20 Personen die Synagoge und zertrümmerten die Inneneinrichtung. Nur aufgrund ihrer Nähe zu bewohnten Häusern, blieb ein Brandanschlag aus.12

Um 1960 sollte das Gebäude abgerissen werden.

1978 wurde das Synagogengebäude in ein Museum umgewidmet, das den Namen Landesrabbiner Dr. I. E. Lichtigfeld-Museum erhielt, im Andenken an den hessischen Landesrabbiner, der den Gemeinden von 1954 bis 1967 vorstand.13 Dort werden Kultgegenstände, Archivalien und Fotos gezeigt, die Kenntnisse über das jüdische Leben im Odenwald vermitteln.

2005 spendete der Landesrabbiner Dr. Salomon Almekias-Siegl eine Thorarolle. Seitdem feiert die jüdische Gemeinde Michelstadt dort auch wieder Gottesdienst.

Weitere Einrichtungen

Weitere Einrichtungen

Noch 1989 gab es in Michelstadt Laubhütten, darunter der hintere Anbau am Haus Neutorstraße 3 und eine gusseiserne Gartenlaube mit Ziegeldach im Garten des Hauses Erbacher Straße 12. In dem letztgenannten Haus lebte der weit über Michelstadt hinaus berühmte Ba´al Schem Rabbiner Seckel Löb Wormser. Er hatte es nach dem Brand seines Hauses in der Großen Gasse im Jahr 1826 erworben und bis zu seinem Tode bewohnt.

Zwei weitere Laubhütten befanden sich in den benachbarten Häusern Waldstraße 26 und 28.14

Mikwe

Mit dem Bau der Synagoge entstand vermutlich auch eine Mikwe. Sie wurde um 1857 erneuert. Der Vorbereitungsraum lag noch im Synagogengebäude, ebenso wie die Heizvorrichtung. Die eigentliche Badeeinrichtung lag außerhalb der Stadtmauer, das Becken war in den Boden des Anbaus eingelassen und über fünf Stufen zu betreten.15 Es wurde um 1960 entfernt.

Schule

Spätestens mit dem Bau der Synagoge wird in Michelstadt auch Religionsunterricht erteilt worden sein. Seckel Löb Wormser machte sie zu einer weit über die Region hinaus wirksamen Thoraschule. Um 1800 unterrichtete er dort bis zu 70 Schüler. Es war nicht leicht, für ausreichend Unterkunft und Verpflegung zu sorgen. Zeitweise versorgte er arme Schüler aus seinem eigenen Vermögen, zeitweise erhielt die Schule auch aus dem Ausland Unterstützung. Seine Privatbibliothek bestand aus mehr als 1.500 Werken.16

Nach seinem Tod wurden im Synagogengebäude Schulräume eingerichtet.

Cemetery

Der jüdische Friedhof Michelstadt liegt östlich der Stadt an der Straße Am Stadion. Er diente den Verstorbenen der Gemeinden Beerfelden, Reichelsheim, Kirch-Brombach, König, Mümling-Grumbach, Höchst, Hetschbach, Neustadt und Seckmauern als Begräbnisstätte.17

Vermutlich wurde der Friedhof um 1700 auf einem Grundstück der Grafen zu Erbach-Fürstenau angelegt und vor 1747 mit einer Mauer eingefasst.18 Der älteste erhaltene Grabstein ist Nr. 122, der Stein von Hintche, Frau von Mai´r Kulpa aus Beerfelden, die am 1. Februar 1725 oder 6. Juli 1728 starb. Mai´r Kulpa verstarb ein Jahr später, am 28. Juni 1729.19

Erst 1860, als das Gelände erweitert wurde, war das Grafenhaus bereit, das Gelände an den israelitischen Friedhofsverband zu verkaufen. Vorher erhob es zunächst für jede Bestattung, später jährlich, einen festgelegten Betrag.

Ob es Mitte der 1920er Jahre zu Beschädigungen kam, ist abschließend nicht geklärt. Sicherlich wurde der Friedhof aber am 9. und 10. November 1938 erheblich geschändet und die Friedhofshalle eingerissen.

Als Anfang Mai 1950, dem fünften Jahrestag der Kapitulation der Wehrmacht, abermals Grabsteine umgeworfen wurden, wurde dies seitens der Polizei als Bubenstreich klassifiziert.20 In der Nacht zum 21. Juni 1986 stießen vier Personen zwölf Grabsteine um und stahlen einen Kindergrabstein.

Auf dem Friedhof befindet sich auch das Grabmal des am 13. September 1847 verstorbenen Ba´al Schem, Seckel Löb Wormser. Ihm wurde ein Grabmal aus weißem Sandstein mit aufsitzender Krone gesetzt, das 1940 gestohlen wurde. Im Juni 1946 ließ sein Urenkel Fritz Dreifuß eine Kopie erstellen und aufrichten. Sie hat sich zu einem Wallfahrtsort für Juden aus aller Welt entwickelt.

Die letzte Bestattung fand am 18. Januar 1940 statt.

Michelstadt, Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen

Grabstätten

Michelstadt, Jüdischer Friedhof: Grabstätten anzeigen

References

Weblinks

Quellen digital

Sources

Bibliography

Illustrations

Indices

Persons

Israel Wolf · Hirtz, Rabbi · David · Löw, Frau von · Abraham Joseph · Moses Emanuel Speier · Bick, Arno · Mattisjahu · Mayer Strauß · Seckel Löb Wormser · Lichtigfeld, I. E. · Almekias-Siegl, Salomon · Erbach-Fürstenau, Grafen zu · Hintche, Frau von Mai'r Kulpa · Mai'r Kulpa · Dreifuß, Fritz

Places

Königstein · Friedberg · Steinbach · Erbach · Erbach, Gräfliche Münze · Michelstadt, Zündholzfabrik Lyon & Strauss · Michelstadt, Schuhfabrik Strauss · Mannheim · Frankfurt am Main · Beerfelden · Reichelsheim · Kirch-Brombach · König · Mümling-Grumbach · Höchst im Odenwald · Hetschbach · Neustadt · Seckmauern

Sachbegriffe Geschichte

Pogromnacht · Buchenwald, Konzentrationslager · Dreißigjähriger Krieg · Gräflich Erbachische Münze · Ba’al Schem von Michelstadt · Kabbala · Erster Weltkrieg · Laubhütten · Zweiter Weltkrieg

Sachbegriffe Ausstattung

Almemore · Thoraschreine · Matrikelbücher · Manuskripte · Erstausgaben · Handschriften · Mischnajot · Talmud · Vorlesepulte · Wickelbänke · Leuchter · Hängelampen · Teppiche · Gedenktafeln · Thorarollen · Thoraaufsätze · Wimpel · Lesefinger · Schilde · Vorhänge · Thoramäntel

Sachbegriffe Architektur

Krüppelwalmdächer · Lisenen · Inschriftensteine · Terrazzoböden · Frauenemporen · Muldendecken

Fußnoten
  1. HHStAD C 1 B, in 228
  2. HHStAD C 1 B, in 228
  3. Schmall, 1988, S. 15
  4. Schmall, 1988, S. 26
  5. Schmall, 1988, S. 50
  6. Schmall, 1988, S. 138
  7. Diersch, 2012, S. 181
  8. HStAD R 21 J, 3355
  9. HStAD P 11, 354
  10. HHStAW 518, 1459
  11. HHStAW 518, 1459
  12. Schmall, 1988, S. 124
  13. Roth, 1978, S. 7
  14. Teubner, 1989, S. 38
  15. HStAD P 11, 352
  16. Walther, 1984, S. 55
  17. Schmall, 1988, S. 156
  18. Diersch, 2012, S. 174
  19. Heinemann, Friedhofsdokumentation
  20. Diersch, 2012, S. 178
Recommended Citation
„Michelstadt (Odenwaldkreis)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/syn/id/103> (Stand: 23.7.2022)