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Eröffnung der documenta V in Kassel, 28. Juni 1972

Die weltweit bedeutendste Ausstellungsreihe zur zeitgenössischen Kunst, die 1955 von ihrem langjährigen Leiter, dem Kasseler Kunstprofessor und Designer Arnold Bode (1900–1977) ins Leben gerufene documenta in Kassel, öffnet zum fünften Mal für die Dauer von 100 Tagen ihre Pforten für das Publikum.

Organisation und Konzept

Die Durchführung der diesjährigen Ausgabe der Ausstellung bedeutet in mehrfacher Hinsicht eine tiefgreifende Zäsur. Die Auswahlprinzipien und Organisation der 1968 von 220.000 Besuchern frequentierten Vorgängerveranstaltung documenta 4, die damals von der Stadt Kassel, vom Land Hessen und vom Bund mit einer Gesamtsumme von 1,1 Millionen DM subventioniert worden war, erschien selbst ihren Veranstaltern in der Retrospektive äußerst reformbedürftig. Bereits zu Beginn wurde die Dominanz gefälliger Pop-Art und Op-Art, das Fehlen wichtiger aktueller Strömungen wie Fluxus, Happening- und Aktions-Kunst, sowie die weitgehende Ausklammerung von politischen Beiträgen scharf kritisiert. Der 24-köpfige documenta-Rat (1968 seinerseits als Neuerung eingeführt), der damals die Entscheidungen über die präsentierten Kunstwerke nach dem Abstimmungsprinzip jeweils Stück für Stück getroffen hatte, weicht ab 1970 einer hauptverantwortlichen Einzelperson. Die nunmehr vom Schweizer Harald Szeemann (1933–2005) konzipierte Ausstellung räumt unter dem Motto „Befragung der Realität – Bildwelten heute“ der Performance- und Happening-Kunst breiten Raum ein. Erstmalig verzichtet ein documenta-Kurator darauf, persönlich alle gezeigten Werke einzeln auszuwählen: Szeemann gewährt den nominierten Künstlern weitgehend freie Hand darüber, selbst zu entscheiden, was sie für zeigenswert halten, und was nicht. Fluxus und selbst Nicht-Kunst (als in den Kunstkontext transferierte Gegenstände des „Profanen“ im Sinne der Duchamp’schen „Readymades“ etc.) und eine eigene Abteilung Bildnerei der Geisteskranken (dem Schweizer Künstler Adolf Wölfli (1864–1930) gewidmet) werden gezeigt. Der Umfang der documenta V wurde gegenüber den vorangegangenen Kassler Kunstschauen spürbar reduziert, und beschränkt sich auf die Räumlichkeiten des Museums Fridericianum und der Neuen Galerie. Das in unmittelbarer Nähe zum Fridericianum gelegene Royal-Kino dient als Aufführungsort für die Beiträge der documenta-Filmschau. Szeemann, der ursprünglich eine völlige Abkehr von statisch-„musealen“ Präsentationen geplant hatte, um der Darstellung kreativer Prozesse und Entwicklungen breitesten Raum zu schaffen, ist von diesem ehrgeizigen Anspruch abgerückt, nachdem eine gewissermaßen als „Generalprobe“ gedachte Happening-Ausstellung in Köln (happening & fluxus, 1970 vom Kölnischen Kunstverein veranstaltet) bei Publikum und Kritik weitestgehend durchgefallen war1 und sich finanzielle und organisatorische Probleme häuften. Ebenfalls scheitert Szeemanns Idee, die bereits während der documenta 4 etablierte „Besucher-Schule“ des deutschen Kunstwissenschaftlers Bazon Brock (geb. 1936) in einem größeren Maßstab zu verwirklichen. Brock, seit 1965 ordentlicher Professor an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, konzipierte diese Schule als Anleitung, die interessierten Besuchern eine Annäherung an Betrachtungsweisen und Rezeption zeitgenössischer Kunst ermöglichen soll.

Einfluss Bodes erstmals kaum mehr spürbar

Der Einfluss des bisherigen Leiters und Gründervaters der documenta, Arnold Bode, der noch der documenta IV zumindest partiell seinen persönlichen Stempel aufdrücken konnte2, ist bei der documenta V fast nicht mehr zu spüren – sieht man einmal davon ab, das es Bode gelingt, die rassismuskritische Installation „Five Car Stud“ von Edward und Nancy Kienholz (im Bereich „Individuelle Mythologien“) mit einer eigenen Finanzierung auch gegen den ausdrücklichen Willen Szeemanns „durchzudrücken“.

documenta V in Zahlen

Insgesamt nehmen mehr als 180 Künstlerinnen und Künstler mit ihren Werken und Aktionen an der 5. documenta teil. Ergänzt wird der Objekt- und Performance-Reigen zeitgenössischer Kunst durch eine Vielzahl von Objekten der Alltagskultur, die den Bereich der Nicht-Kunst repräsentieren. An ihrem Ende werden schätzungsweise 220.000 Besucher die Ausstellung besucht haben. Der Etat der documenta V beläuft sich auf 3,48 Millionen DM. Davon stammen 1,076 Millionen DM aus Erlösen und Spenden, weitere 2,1 Millionen DM sind Zuschüsse der öffentlichen Hand. Die wirtschaftliche Gesamtbilanz schließt mit einem Defizit von 800.000 DM ab.

Programm

Das gewählte Konzept einer thematischen Ausrichtung auf das Spannungsverhältnis zwischen Kunst und den ihr gegenüber stehenden (aber sie auch einschließenden) „parallelen Bildwelten“ aus politischer Agitation, gesellschaftlicher Realität und Nicht-Kunst schuf Raum für neue Kunstströmungen, die als Quasi-Debütanten auf der documenta in den kommenden zwei Jahrzehnte die Speerspitze der Entwicklungen im Bereich der Zeitgenössischen Kunst bilden sollten.

In der Abteilung „Individuelle Mythologien“, die nach Szeemanns Willen breiten Raum einnimmt, wird die Fluxus-Kunst von einigen ihrer einflussreichsten Protagonisten vertreten, unter anderem durch Arbeiten von George Brecht (1926–2008), Robin Page (1932–2015), Ben Vautier (geb. 1935) und Robert Filliou (1926–1987). Mehrere Vertreter des Wiener Aktionismus präsentieren ihre umstrittenen Werke als Beitrag zum Segment „Happening“. Ein „Happening“ der besonderen Art bietet Joseph Beuys (1921–1986), der für 100 Tage im Fridericianum das Büro seiner „Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ einrichtet, um mit Besucherinnen und Besuchern zu diskutieren und den Kunstanspruch seiner „Live“-Installation über die ästhetische Kategorie hinaus im öffentlichen Raum zu verankern.

Im Bereich Performance, der seine Prämiere auf der Kasseler Kunstausstellung feiert, finden sich neben mittlerweile bereits international bekannten Namen dieser neuartigen Strömung wie James Lee Byars (1932–1997) und Klaus Rinke (geb. 1939) auch die 1944 im südhessischen Michelstadt (Odenwaldkreis) geborene Rebecca Horn, die als jüngste Künstlerin an der diesjährigen documenta teilnimmt. Die Sparte Concept Art ist ebenfalls zum ersten Mal auf der documenta vertreten, und wird überwiegend durch Werke US-amerikanischer Künstler wie Dan Graham (geb. 1942), Joseph Kosuth (geb. 1945) und Walter De Maria (1935–2013) repräsentiert. Der aus der Schweiz stammende Konzeptkünstler und Musiker Dieter Meier (geb. 1945) , in Deutschland später vor allem als Sänger der 1978 gegründeten Elektropop-Gruppe Yello (erstes Album 1980 „Solid Pleasure“; Goldene Schallplatte für den Anfang 1985 veröffentlichten Longplayer „Stella“) bereichert das Programm der „Concept-Art“-Reihe auf der documenta V, indem er sich ganz sprichwörtlich am Kasseler Hauptbahnhof „verewigt“: Er lässt eine Metalltafel einbetonieren und mit der Aufschrift versehen: „Am 23. März 1994 von 15.00-16.00 Uhr wird Dieter Meier auf dieser Platte stehen“.

New American Cinema

Erstmals auf der documenta vertreten ist eine neue Abteilung, die unter dem Namen Filmschau: New American Cinema läuft. Hier zeigt der US-amerikanische Film- und Musik-Avantgardist Tony Conrad (1940–2016) den 28-minütigen Experimentalfilm „The Flicker“, der nicht mehr als einen sich beschleunigenden Wechsel von schwarzen und weißen Frames zeigt, bis auf der Leinwand nur noch ein stroboskopartiges Flimmern erkennbar ist. Das zehnminütige „Straight and Narrow“, ein weiteres Werk des in Concord, New Hampshire geborenen, studierten Harvard Mathematikers (Artium Baccalaureus 1962) fügt den alternierenden schwarzen und weißen Bildern aus „The Flicker“ Aufnahmen von ebenfalls in schwarz-weiß gehaltenen horizontalen und vertikalen Streifen sowie Musik hinzu, die eigens von den Minimal Music-Komponisten Terry Riley (geb. 1935) und John Cale (geb. 1942; seit 1965 auch in der experimentellen Rockband The Velvet Underground aktiv) für den Kurzfilm geschaffen wurde. Beide Kunstwerke gelten als Klassiker des „strukturellen Films“, der ab Mitte der 1960er Jahre beiderseits des Atlantiks die technischen, materiellen und formalen Möglichkeiten des Filmmediums vor allem in Hinblick auf die Grenzen des menschlichen Wahrnehmungsvermögens hin auslotete. Weitere Künstler, die auf der documenta V ihr Schaffen im Rahmen der Reihe „New American Cinema“ präsentieren sind George Landow (1944–2011; alias Owen Land), Michael Snow (geb. 1929), Ken Jacobs (geb. 1933) und Sten Brakhage (1933–2003).

Die documenta V wird 40 Jahre nach ihrer Verwirklichung vielfach als bislang bedeutendste Ausstellung der documenta-Reihe bewertet und als einflussreichste Präsentation Moderner Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie polarisierte in beeindruckender Weise und gab erstmals den damals progressivsten, vorher aber von der documenta-Leitung mehr oder weniger strikt ausgeklammerten Richtungen Fluxus, Happening, Performance / Aktions-Kunst und Concept Art ein breites öffentliches Forum.
(KU)


  1. Vgl. DER SPIEGEL 47/1970, 16.11.1970, S. 252: Kunst / Happenings: Allzu unermüdlich (eingesehen am 28.6.2017).
  2. So zum Beispiel bei der Fortsetzung der bereits auf der documenta III präsentierten Abteilung „Licht und Bewegung“, diesmal unter der Bezeichnung „Ambiente“.
Records
Additional Information
Recommended Citation
„Eröffnung der documenta V in Kassel, 28. Juni 1972“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/subjects/idrec/sn/edb/id/1312> (Stand: 28.3.2023)
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