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12. Hessentag 1972 in Marburg, 17.-25. Juni 1972

In der mittelhessischen Universitätsstadt Marburg an der Lahn findet vom 17. bis zum 25. Juni der 12. Hessentag statt. Zugleich feiert die Stadt ihr 750-jähriges Bestehen. Zum ersten Mal erstreckt sich das seit 1961 jährlich in einer anderen hessischen Stadt abgehaltene Landesfest auf neun Tage.1 Noch vor Beginn des im vergangenen Jahr in Eschwege veranstalteten 11. Hessentags bestimmte die Hessische Landesregierung, den 12. Hessentag nach Marburg zu vergeben. Das Marburger Stadtjubiläum gab schließlich den Ausschlag für die Entscheidung, den Hessentag in der rund 47.000 Einwohner zählenden (1970) Stadt an der Lahn zu veranstalten. Daneben hatte sich Pfungstadt um die Ausrichtung des zwölften Hessentags beworben, das den Hessentag für 1973 zugesprochen bekam. Eine Mitteilung über den diesbezüglichen Kabinettsbeschluss wurde Anfang Juni 1971 vom Pressebüro des 11. Hessentags öffentlich gemacht.2

Das Rahmenprogramm des Hessentags ist ausgesprochen vielfältig und reicht über die Grenzen der Stadt hinaus. Der ADAC veranstaltet zwischen dem 17. und 23. Juni eine Stern- und Zielfahrt nach Marburg, an der sich jedermann kostenlos beteiligen kann.3 Ein Pendant findet diese Sternfahrt in dem am 17. Juni veranstalteten 12. Hessensternflug, dessen Ziel der neue Flugplatz in Marburg-Schönstadt ist. Sammelpunkt für die Sportflieger ist Allendorf an der Eder. Die Flugzeugführer und ihre Copiloten können bei der Lösung von Navigationsaufgaben, bei Ziellandungen und Zeitanflügen ihr fliegerisches Geschick beweisen und Punkte für Ehrenpreise und Plaketten sammeln.4 Eine Volkstanz- und Musikgruppe aus Kronstadt war bereits im Oktober des Vorjahres von Ministerpräsident Albert Osswald bei einem offiziellen Besuch in Rumänien eingeladen worden.5 Bemerkenswerte Veranstaltungen sind weiterhin die aus Anlass des Hessentages am 18. Juni vom Turn- und Sportverein 1898 Marburg-Ockershausen in der Universitätssporthalle ausgerichteten 14. Hessischen Meisterschaften im Rhönradturnen und eine von den hessischen Staatsarchiven präsentierte Ausstellung „Widerstand in Hessen gegen das NS-Regime“. Die auf dem Hessentag gezeigte Ausstellung bildet auch den Rahmen für die Verleihung der Wilhelm-Leuschner-Medaille6 an den Buchhändler Joseph Lang (1902-1973), den evangelischen Theologen und hessen-nassauischen Kirchenpräsident i. R. Martin Niemöller (1892-1984) und den katholischen Pfarrer der Frankfurter St.-Gallus-Gemeinde Josef Will. Alle drei Persönlichkeiten erhalten die Medaille in Anerkennung ihres mutigen Auftretens gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft.7

Der Hessentag ist am Samstag, den 24. Juni, auch Austragungsort der Sektion Staffelwettbewerbe der diesjährigen hessischen Meisterschaften der Schwimmer, die eine Woche zuvor bei den Einzelwettkämpfen in Michelstadt bereits einen Höhepunkt hatten.

Begleitet wird das zwölfte hessische Landesfest durch Proteste der Marburger Studierenden. Etwa zweitausend Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmer äußern ihr Kritik an Kürzungen und Sperren des hessischen Landeshaushalts. Die Einsparungen treffen dabei nicht nur die Studentenwerke, sondern auch die wissenschaftlichen Hilfskräfte und Tutoren, deren Jahresverträge bisher nicht verlängert worden sind. Die Betroffenen antworten mit einem unbefristeten Streik, der nun mit den Veranstaltungstagen des Landesfests zusammenfällt und das Angebot der Universität für ihre Studierenden schmerzhaft verringert. Die studentischen Proteste richten sich darüber hinaus gegen höhere Mieten in den Studentenheimen, eine Steigerung der Sozialbeiträge und andere Lasten, die in den Augen der Demonstranten das Studium unmöglich machen. Aufsehen erregt auch die Beteiligung der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) am Hessentag, die sich das Recht, auf den Lahnwiesen ein Zelt für tausend Besucher aufzustellen, durch ein Verwaltungsgerichtsurteil erstritten hat. Eine als studentisches Projekt begonnene Studie, die 1973 veröffentlichte wird8 und sich mit dem Hessentag in Marburg beschäftigt, sorgt schließlich im Nachgang für einen Eklat. Die Kommune und die Landesregierung als Festveranstalter fühlen sich falsch dargestellt. Eine Podiumsdiskussion im Fernsehprogramm des Hessischen Rundfunks gibt den Politikern aus Wiesbaden und den kritischen Studierenden Gelegenheit, ihre Standpunkte zu vertreten.9

Im Vorfeld hatte die Stadt Marburg ihre Bemühungen um die Erneuerung der Altstadt intensiviert. Städtische Zuschüsse flossen insbesondere in die Sanierung von Fassaden denkmalgeschützter Fachwerkhäuser. Unter Verwendung der Fördermittel wurden 1971 und 1972 140 Häuser saniert. Allerdings waren diese Maßnahmen nicht offiziell als Vorbereitung zum Hessentag oder der Jubiläumsfeier deklariert worden.

Der 12. Hessentag in Marburg zählt rund 250.000 Besucher. Der nächste Hessentag findet vom 16. bis 24. Juni 1973 in Pfungstadt statt.
(KU)


  1. Bisher dauerten die Hessentage jeweils drei Tage, nur der 5. Hessentag 1965 in Darmstadt war auf eine fünftägige Dauer ausgedehnt worden.
  2. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.6.1971, S. 25: Hessentage 1972 und 1973.
  3. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.6.1972, S. 43: ADAC-Fahrt zum Hessentag; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.6.1972, S. 45: Sternfahrt nach Marburg.
  4. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.6.1972, S. 41: Hessensternflug der Sportflieger in Allendorf.
  5. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.10.1971, S. 54: Chemie und Touristik: Osswald aus Rumänien zurück / Bereitschaft zur Zusammenarbeit.
  6. Die Wilhelm-Leuschner-Medaille ist die höchste Auszeichnung des Landes Hessen. Sie wurde am 29. September 1964 durch den hessischen Ministerpräsidenten Georg-August Zinn anlässlich des 20. Todestages des deutschen Gewerkschafters und sozialdemokratischen Politikers Wilhelm Leuschner gestiftet, der im Widerstand gegen den Nationalsozialismus kämpfte. Leuschner wurde am 29. September 1944 im Strafgefängnis Berlin-Plötzensee hingerichtet.
  7. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.6.1972, S. 41.
  8. HeBIS Andreas C. Bimmer (Hrsg.), Hessentag: ein Fest der Hessen? : Anspruch und Wirklichkeit eines organisierten Volksfestes (Marburger Studien zur vergleichenden Ethnosoziologie; 2), Marburg 1973.
  9. Vgl. HeBIS Konrad Vanja (Hrsg.), Arbeitskreis Bild Druck Papier. Tagungsband Berlin 2012: 31. Tagung des Arbeitskreises Bild, Druck, Papier in Berlin, 2012 (Arbeitskreis Bild, Druck, Papier; 17), Münster [u.a.] 2013, S. 221 ff.
Records
Additional Information
Recommended Citation
„12. Hessentag 1972 in Marburg, 17.-25. Juni 1972“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/subjects/idrec/sn/edb/id/5396> (Stand: 27.11.2022)
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