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Georg-Büchner-Preis an Wolfdietrich Schnurre, 21. Oktober 1983

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht im Staatstheater Darmstadt den Georg-Büchner-Preis an den Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre (1920–1989).1 Schnurre erhält erstmals ein Preisgeld in Höhe von 30.000 DM, nachdem nach der Büchner-Preis-Verleihung im letzten Jahr beschlossen wurde, den mit 20.000 DM dotierten Preis durch Unterstützung des Bundesministeriums um 10.000 aufzustocken.2

Der in Frankfurt am Main geborene Wolfdietrich Schnurre ist als freier Schriftsteller und Theater- und Filmkritiker für Berliner Zeitungen tätig. Als Mitbegründer der „Gruppe 47“3 zählt er zu den wichtigsten Vertretern der deutschen Nachkriegsliteratur, er verfasst Kurzgeschichten, Romane, Tagebücher, Gedichte und Hörspiele.4 Bekannt wurde er allerdings auch seit Mitte der 1960er Jahre durch die Veröffentlichung von Kinderbüchern, die er zum Teil auch selbst illustrierte. Für Aufsehen sorgte die 1958 publizierte Zigeunergeschichte „Jenö war mein Freund“, die den Völkermord an den europäischen Roma während der NS-Zeit thematisierte, und damit zu dieser Zeit ein öffentliches Tabu brach. In der Begründung der Jury heißt es, dass Schnurre „als Verfasser von Romanen und kurzen Geschichten, als Lyriker und als Chronist seiner selbst seine und unsere Welt facettenreich beschrieben und sie in Gedanken und Bildern so aufsässig wie versöhnlich dem Verständnis des Lesers nahegebracht hat.5

In seiner Dankesrede stellt Wolfdietrich Schnurre nicht etwa, wie sonst üblich, einen Bezug zu Georg Büchner her, um seine Bewunderung für den Darmstädter Autor und Revolutionär auszudrücken, sondern greift die historische Person Büchner scharf an: „Und gäbe es diesen, mit Ihrem Namen verbunden Preis nicht, aus dessen Anlaß ich mir die Freiheit nehme, zu Ihnen zu reden –: lieber Doktor, ich fürchte, es wäre heute wesentlich stiller um Sie. Zumindest hätten nicht so erstaunlich viele zeitgenössische Schriftsteller büchnerpreisbedacht so urplötzlich ihre Seelenverwandtschaft mit Ihnen oder Sie gar als Leitstern, als Vorbild entdeckt. So dass man sich wirklich fragen muss: Hat es eigentlich in Deutschland keine anderen politischen, human-revolutionären Schriftsteller gegeben, als immer und immer nur Sie? Ja, kann man als unabhängiger Autor nicht zur Not auch ohne Vorbild, ohne revolutionäres Anlehnungsbedürfnis, ohne sprachlich-stilistische Anleihen aus dem vorigen Jahrhundert auskommen? Ich habe eigentlich, so lange ich schreibe, die Erfahrung gemacht, ich fahre am besten, wenn ich mich auf mich selber verlasse.6 Diese ungewohnt provokanten Ausführungen zu Georg Büchner in Schnurres Dankrede stoßen zumindest im Feuilleton der F.A.Z. auf Irritation: „Schnurre sagt es so, wie er es meint. Man hätte das vielleicht provozierend nennen können, wäre dies alles nicht so furchtbar peinlich gewesen, so voller Widersprüche und Ungereimtheiten, zudem nicht frei von Selbstmitleid und Larmoyanz – und ohne den leisesten Anflug von Ironie.7

Der Georg-Büchner-Preis wurde 1923 vom Volksstaat Hessen und der Landeshauptstadt Darmstadt ins Leben gerufen und an Dichter*innen, Künstler*innen, Schauspieler*innen und Sänger*innen verliehen. Seit 1951 wird er von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung als Literaturpreis vergeben. In dieser Funktion zeichnet er Schrift­stellerinnen und Schrift­steller, „die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeiten und Werke in besonderem Maße hervor­treten und die an der Gestaltung des gegen­wärtigen deutschen Kultur­lebens wesentlichen Anteil haben“, aus.8 Die Vergabe des Georg-Büchner-Preises findet jährlich im Rahmen der Herbsttagung der Akademie statt und stellt gemeinsam mit der Verleihung des Johann-Merck-Preises für literarische Kritik und des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa den feierlichen Teil der Tagung dar.9
(NT)


  1. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.10.1983, S. 34: Sprache der Bibel: Tagung in Darmstadt.
  2. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.9.1982, S. 39: Der Georg-Büchner-Preis wird aufgewertet.
  3. Die Gruppe 47 bezeichnet eine 1947 bis 1967 bestehende Schriftsteller*innenvereinigung, die eine wichtige Plattform für Autoren der Nachkriegszeit darstellte und wesentlich zur Erneuerung der deutschen Literatur nach der NS-Diktatur beitrug.
  4. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.10.1983, S. 25: Schnurre contra Büchner.
  5. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung: Auszeichnungen: Georg-Büchner Preis: Wolfdietrich Schnurre: Urkundentext.
  6. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung: Auszeichnungen: Georg-Büchner Preis: Wolfdietrich Schnurre: Dankrede.
  7. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.10.1983, S. 25: Schnurre contra Büchner.
  8. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung: Auszeichnungen: Georg-Büchner Preis.
  9. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.10.1983, S. 34: Sprache der Bibel: Tagung in Darmstadt.
Records
Additional Information
Recommended Citation
„Georg-Büchner-Preis an Wolfdietrich Schnurre, 21. Oktober 1983“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/subjects/idrec/sn/edb/id/5556> (Stand: 15.8.2021)
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