Zeitgeschichte in Hessen - Daten · Fakten · Hintergründe

Eröffnung des neuen Hessischen Landtags durch den Großherzog, 20. Dezember 1911

Großherzog Ernst Ludwig von Hessen eröffnet nach der Neuwahl vom 17. November 1911 den 35. Hessischen Landtag. In seiner Thronrede äußert er Folgendes:

Meine Herren Stände!
Ich heiße Sie bei Beginn des XXXV. Landtags freundlichst willkommen.
Nach den Verfassungsänderungen vom 3. Juni d. Js.¹. treten Sie heute zum ersten Male zusammen. Die Erste Kammer hat aus den Kreisen der Wissenschaft, des Handels und der Industrie, der Landwirtschaft und des Handwerks wertvolle Kräfte gewonnen. Die Zweite Kammer besteht nunmehr in der Mehrzahl ihrer Mitglieder aus unmittelbar gewählten Abgeordneten und ist an Zahl durch weitere Vertreter der Städte und des Landes verstärkt.
Ich hoffe zuversichtlich, daß die neugeordnete Mitwirkung der Ersten Kammer bei Feststellung des Finanzgesetzes und Hauptvoranschlags Ihre fernere gedeihliche Zusammenarbeit mit Meiner Regierung zum Wohle des Landes fördern wird.
Ihre nächste Tätigkeit wird dem Staatsvoranschlag der Einnahmen und Ausgaben für 1912 zu gelten haben.
Die Sorge Meiner Regierung, die Finanzlage zu kräftigen, kann nur dann nachhaltigen Erfolg verheißen und dem Lande die gleichzeitige Pflege seiner Kulturaufgaben gewährleisten, wenn sich das Verhältnis zum Reich mit Aussicht auf Dauer fester gestaltet, und wenn die Bundesstaaten nicht durch das Reich künftig noch stärker in Anspruch genommen zu werden brauchen.
Nicht minder muß innerhalb des Landes der Staatshaushalt von Schwankungen des Wirtschaftslebens möglichst unabhängig bleiben, die sich erfahrungsgemäß alsbald in den Betriebsergebnissen der Hessisch-Preußischen Eisenbahngemeinschaft ausdrücken. Nach wie vor steht Meine Regierung auf dem Standpunkt, daß gegen die Folgen solcher unvermeidlichen Rückschläge ebenso wie des Anwachsens der Staatsschuld und der durch sie bedingten Zinsenlast gesetzliche Vorkehr zu treffen ist. Die auf dem vorigen Landtag unerledigt gebliebene Gesetzesvorlage wegen einer genügenden Tilgung der Staatsschuld wird Ihnen daher erneut mit teilweise geänderten Vorschlägen zugehen.
Der Lösung dieser wichtigen und nicht mehr zu verschiebenden Aufgabe kommen die noch andauernd günstigen Eisenbahneinnahmen entgegen. Aus ihnen kann zugleich die laufende Verwaltung erhöhte Zuschüsse erhalten. Es trägt dies zu Meiner lebhaften Befriedigung dazu bei, nunmehr auch der nicht weniger dringlich gewordenen Aufgabe näherzutreten, die Bezüge der Beamten, Staatsdienstanwärter und Volksschullehrer mit den schon seit längerer Zeit und neuerdings in verstärktem Maße gestiegenen Kosten der Lebenshaltung in besseren Einklang zu bringen. Daneben wird gesucht werden müssen, der vielfach mißlichen Lage der Pensionäre und der Hinterbliebenen früherer Staatsbeamten Rechnung zu tragen, sowie für die Zivilliste gleichartige Schritte zu ermöglichen. Wo sich die Löhne der für den Staat nur auf Grund Arbeitsvertrags beschäftigten Personen als zu niedrig erwiesen haben, sind sie früher und auch im neuen Hauptvoranschlag erhöht worden.
Für die bezeichneten Zwecke sollen außer den erwähnten Zuschüssen Ersparnisse der Staatsverwaltung und zu Gebote stehenden Reste früherer Jahre herangezogen werden. Die überdies in Aussicht genommenen neuen Einnahmequellen werden nur unter sorgfältiger Rücksichtnahme auf die Steuerkraft und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes erschlossen werden. Durch die angedeuteten Gesichtspunkte bestimmte Vorschläge werden vorbereitet und Ihnen in nächster Zeit zugehen.
Im Interesse der Stadt Mainz und der mit ihr verbundenen Landesteile begrüße Ich das Ihnen zu unterbreitende Abkommen mit Meiner Regierung wegen der Straßenbrücke. Ebenso hoffe Ich, daß die Übernahme des Kostenanteils für den Umbau des Bahnhofs Offenbach durch die zu erwartenden Verkehrsvorteile ausgeglichen wird.
Mit der Überführung von Grundstücken aus dem Staatseigentum in bäuerlichen Besitz soll fortgefahren werden. Es wird Ihnen hierüber wieder eine Vorlage zugehen.
Erfreulicherweise hat sich die seither ungünstige Lage der weinbautreibenden Bevölkerung in Folge der diesjährigen Weinernte erheblich gebessert. Dagegen haben das starke Auftreten der Maul- und Klauenseuche und die Dürre dieses Sommers die Landwirtschaft trotz einer qualitativ guten Ernte teilweise in Schwierigkeiten gebracht, die besonders durch die Sorge um die Erhaltung der Viehbestände und durch die in ihrem Gefolge aufgetretene Teuerung auch die Allgemeinheit der Bevölkerung berühren. Maßnahmen Meiner Forstverwaltung haben dem Mangel an Futter- und Streumitteln zu begegnen gesucht. Daneben waren die Organe der Landwirtschaftskammer, gestützt durch die staatlichen Zuschüsse, in der Lage, helfend einzugreifen, während zur Linderung der allgemeinen Teuerung die Herabsetzung der Futter- und Lebensmitteltarife der Hessisch-Preußischen Staatsbahnen beigetragen hat und vielfach die Gemeindeverwaltungen in anerkennenswerter Weise geeignete Maßnahmen ergriffen haben.
Zur Ausführung des demnächst in Kraft tretenden neuen Reichsviehseuchengesetzes werden Ihnen alsbald geeignete Vorschläge und der Entwurf eines Gesetzes wegen Entschädigung für an Maul- und Klauenseuche gefallenes Rindvieh zu gehen.
Die Einführung der Reichsversicherungsordnung erfordert eine neue Gestaltung der Versicherungsbehörden. Der Kostenbedarf wird im Hauptvoranschlag angefordert und Ihnen der Entwurf der landesgesetzlichen Vollzugsvorschriften unterbreitet werden.
Nach den auf dem vorigen Landtag geäußerten Wünschen sollen die Bezüge der Kreisärzte und Kreisassistenzärzte anderweit geregelt und die Impfgebühren zur Staatskasse vereinnahmt werden. Eine Vorlage über die dadurch notwendig gewordene Änderung des zur Zeit geltenden Ausführungsgesetzes zum Reichs=Impfgesetz wird Ihnen alsbald zugehen.
Eine Novelle zu dem Gesetz, die Brandversicherungsanstalt für Gebäude betreffend sowie der Entwurf eines Gesetzes, betreffend das Verfahren der Zwangsvollstreckung im Verwaltungsweg, sollen die auf diesem Gebiet geltenden Bestimmungen zeitgemäß umgestalten und ergänzen.
Den Wünschen auf eine anderweite Abgrenzung der Verwaltungsbezirke in der Provinz Rheinhessen wird Meine Regierung durch eine Gesetzesvorlage entgegenkommen.
Auf dem Gebiet der Unterrichtsverwaltung wird Ihnen dem Ersuchen des vorigen Landtags entsprechend der Entwurf eines Gesetzes über die Aufbringung der Kosten der höheren Schulen zugehen. Eine Novelle zur Revision des Volksschulgesetzes soll diejenigen Änderungen bringen, die sich im Laufe der Zeit als wünschenswert ergeben haben, ohne an den bewährten Grundlagen des Gesetzes zu rütteln.
Zur weiteren Ausgestaltung des Lehrerbildungswesens trifft der Hauptvoranschlag für das Jahr 1912 Vorsehung. Ebenso soll in ihm ein Betrag zur Förderung der Pflege der schulentlassenen Jugend bereit gestellt werden.
Zur Neuregelung des Jagdpolizeistrafrechts die auf dem XXXII. und XXXIII. Landtage erfolglos versucht worden ist, wird Ihnen eine Vorlage zugehen, sofern nicht der Fortgang der Arbeiten zur Reform des Reichsstrafrechts, das jene Materie teilweise geregelt hat, den Aufschub der Revision des hessischen Jagdstrafgesetzes rätlich erscheinen läßt.
Mit Vertrauen sehe Ich der Erledigung der Ihnen gestellten wichtigen Aufgaben entgegen. Mögen Ihre Arbeiten der Wohlfahrt Meines geliebten Landes dienen.
Meines fortdauernden landesfürstlichen Wohlwollens dürfen Sie sich versichert halten.²
(OV)

1. Vgl. Reform des Landtagswahlrechts im Großherzogtum Hessen, 3. Juni 1911 ↑
2. Verhandlungen der zweiten Kammer der Landstände des Großherzogtums Hessen in den Jahren 1911/14. Drucksachen, Bd. 1, Anlage II zu Drucksache Nr. 4 (eingesehen am 20.12.2021). ↑