Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917

Abschnitt 34: V. "Stollenquetscher"

[92-94] 6. Juli.
Aeußerst heftiges Artilleriefeuer. Unser Stollen schaukelt, als ob er an einem Bindfaden ausgehängt sei. „So'n Leichtsinn", meint der Artillerie-Verbindungsoffizier immer wieder.
Und ein Geräusch, als ob die Erde Leibschmerzen hätte und rülpsen würde! Die „Stollenquetscher" bohren [S. 93] sich krachend und knirschend unaufhörlich in den Boden. „Stollenquetscher" ist ein anschauliches Wort, das die neuschaffende Sprache des Frontsoldaten geprägt hat. „Stollenquetscher" sind dickwandige Granaten, deren Zünder nicht auf „Aufschlag", sondern auf „Verzögerung" gestellt sind. Sie bohren sich, ehe sie platzen, tief in die Erde ein; wenn auch das Geschoß selbst nicht die Deckung der tiefsten Stollen durchschlägt, so werden aber doch durch die nach unten sich entladende Wucht der Explosion die Stollenrahmen zerbrochen; die Erde rutscht nach. Der Stollen wird „abgequetscht". Einströmende Kohlenoxydgase, die bei jeder Granatexplosion sich entwickeln, machen den Aufenthalt für die Ueberlebenden in einem eingeschossenen Stollen unmöglich. —
Seit Stunden schon wird das ganze Gelände nach der Breite und Tiefe hin unter schwerem Feuer gehalten. Und doch kommen Meldeläufer hindurch, von Trichter zu Trichter sich vorarbeitend. Bis zum Spätnachmittag bleibt die Lage ungeklärt.
[...]
[S. 94] Noch lebt der Geist von Langemarck im jüngsten Jungdeutschland, das vor dem Feinde steht! Es ist eine Lust, solche Leute zu führen!
8.15 Uhr abends. Gegenstoß. Kein Stürmen über freies Feld mit lautem Hurra. Langsam wie Schlangen kriechen die Leute zur bestimmten Sekunde aus dem Graben, eng an den Boden gepreßt, winden sich von Granatloch zu Granatloch, erreichen unbemerkt den Rand der Höhe — ein Sprung — eine Handgranatensalve — und im aufgewirbelten Staub verschwinden katzenhaft schnell die Gestalten im wiedergenommenen Graben, der uns den Einblick hinter den Berg sichert. [...] Während die Trägertrupps der anderen Kompagnien wegen des tollen Störungsfeuers keine Verpflegung nach vorn bringen, meldet sich plötzlich zu meiner größten Ueberraschung mein wackerer Unteroffizier Schwering bei mir. Keuchen und schweißtriefend. Zwölf schwer mit Wassertornistern, Korbflaschen und Sandsäcken beladene Leute hat er durch dieses Feuer ohne Verluste nach vorn geführt. Und bringt sie auch wieder heil zurück. Ein alter Krieger; seit August 1914 im Felde; ich kenne ihn schon vom „Toten Mann" her. An ihm hat sich's bewahrheitet: dem Mutigen hilft Gott.

7. Juli mittags und abends.
Es wird ruhiger. Wie erlösend und wohltuend!


Personen: Egly, Wilhelm · Schwering, Unteroffizier
Orte: Friedberg · Langemarck
Sachbegriffe: Artillerie · Eisernes Kreuz · Explosion · Gefangene · Gott · Granaten · Kompanie · Kohlenmonoxid · Marathonläufer · Mut · Schmerzen · Tagebücher · Überlebender · Wasser
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917, Abschnitt 20: V. "Stollenquetscher"“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/65-34> (aufgerufen am 27.04.2024)