Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 24: Probleme der Landwirtschaft durch Einberufungen

[64-68] Aber schwerer geworden ist die Arbeit im folgenden Kriegsjahr.
Als der Winter seinen Höhepunkt überschritten, meldeten sich die ersten Vorzeichen. Die Menschen begannen nachzudenken und zu überlegen, was das Frühjahr für die Feldbestellung an Kraft und [S. 65] Mitteln verlange. Da fingen die Herzen an zu zagen und die Lippen es deutlich auszusprechen: unmöglich, daß es auch diesesmal gelingt. Ängstlich in die Höhe gezogene Augenbrauen grüßten die Schneeschmelze.
Aber als die Schneeschmelze kam, erhielten die Landsturmmänner im Alter von 20 bis 30 Jahren ihre Gestellungsbefehle.
Das war zuviel.

Eines Abends klopfte es an meine Stubentüre und bat mich, unbedingt in die Untergasse zu kommen, denn der Schrecken habe eine Witwe übermannt. So war es auch. Sie hielt, als ich kam, noch die Papiere in der Hand, die ihren Sohn, seither niemals Soldat, zu den Waffen riefen. Und war untröstlich, laut schreiend und ungebändigte Tränen vergießend. Weinte sie um ihren Sohn? Nein! Aber sie hatte ein Gütchen; das ist nicht gar zu klein, und wirklich hängt alle ihre Lebensmöglichkeit an diesem Gütchen — solange es der Sohn bestellen kann. Und sie weint, weil er es nicht mehr können soll. Es ist ein richtiger Verzweiflungsausbruch bei ihr. Weiber stehen um sie herum und suchen sie zu trösten; aber ihre eigenen Herzen schluchzen unter dem Drucke der Angst, und so ist es nichts mit ihrem Troste. Ich fasse sie fester an. um ihre Seele wieder zurecht zu rütteln; aber sie entzieht sich meinen Worten und geht in die Kammer. [S. 66] Endlich kommen getreue Nachbarn; sie wissen zwar selber nicht, wie sie mit dem Ihren fertig werden; aber sie bieten wie selbstverständlich ihre Hilfe an. Da nimmt's die Witwe endlich wieder mit dem Leben auf.

Aber noch lange Wochen rennt sie verschlossen und mit einem eigentümlich verängsteten Antlitz durch die Gassen und über die Felder. Wer wagt es, sie darüber zu tadeln? Sie sehen alle in ihr nur das beinerne Gleichnis ihrer eigenen Seele.

Als dann die ersten Spuren eines neuen Grüns verstohlen über die Wiesen im Tale huschen, ziehen die Landsturmmänner in die Garnisonen. Sie haben zuvor noch die Pflüge geordnet, die Eggen ausgebessert, das Saatgetreide gemessen, sich und die andern mit Urlaub vertröstet. Dann sind sie, erwartungsvoll gespannt auf das Neue, das sie erwartet, davongezogen. Und während sie, erfüllt von Übungen und Exerzieren, sich für ein ferneres Feld bereiten, dehnen daheim die Frauen und Mädchen die winterlich verschlafenen Glieder zum Kampf mit dem Land, der doch nur ein Sieg über das Land werden darf. Und der siebzigjährige Vater tritt tappelnd in den Stall zu seinen Kühen, streichelt sie zwischen den Hörnern und am Halse und meint rührend: [S. 67]
„Ihr tut ma leid um des, wos aich mit uch wearn schaffe misse!"
Doch keiner hat eine Furche gezogen oder einen Säewurf getan, bevor wir unseren Bittgottesdienst gehalten. Auch die Kirchenbehörde hat einen solchen empfohlen. Wir aber hatten ohnedies schon um ihn gewußt, als die Witwe verzagte. Kraft brauchten wir, und die holt man bei uns zu Lande im Gottesdienste, wo man nahe aneinanderrückt, bis die Geister eine Seele geworden sind, die der Predigt lauscht und sich erbauen läßt, sich vornimmt, stark zu sein, um sich und anderen zu helfen, sich erinnert an die Gotteshuld der letzten Ernte und schließlich in kraftvollem Gemeinschaftsgefühl Gottes Stärke in das Herz der Gemeinde hineinfleht.

Dann ging das Schaffen los, das gewaltige Schaffen. Vor meinem Fenster, hinterm Birnbaum, steht das Backsteinhäuschen des Nachbars. Auch er ist zum Landsturm eingezogen und in einer fernen Stadt. Aber einen halbwüchsigen, schwächlichen Buben hat er zu Haus bei seinem Weibe zurückgelassen. Der macht alles. Noch ist es dunkel, da höre ich ihn des Morgens vorbeifahren. Ich erkenne ihn an den eigentümlich harten Zurufen, mit denen er seine Kühe zur Eile mahnt. Draußen habe ich ihn ackern sehen. Kaum daß er den Pflug halten und die Furchen [S. 68] gerade zu richten vermag. Aber er hält den Pflug, und allmählich werden auch die Furchen gerade. Und er eggt und sät ungelernt. Kommt des Nachts nach Hause und sinkt um elf Uhr in sein Bett, um es früh, im Sommer schon um drei Uhr, wieder zu verlassen. Und gewinnt sich bei alledem noch die Zeit ab, den Frauen aus seiner Freundschaft, die keine halbwüchsigen Söhne haben, die Äckerchen zu bestellen.
„Du bist ein tapferer Soldat!" sage ich zu ihm.
„Jo," meint er, „un e hungriger! Aich hon näit Brot genug vor so e Ärwet!"


Personen: Herpel, Otto
Orte: Lißberg
Sachbegriffe: Landsturm · Gestellungsbefehle · Landwirtschaft · Kriegshysterie · Bittgottesdienste
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 15: Probleme der Landwirtschaft durch Einberufungen“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-24> (aufgerufen am 26.04.2024)