Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 21: Lißberger Soldaten auf Heimaturlaub

[57-58] Endlich setzt man sich in Bewegung. Langsam und feierlich, oft unterbrochen von Stehenbleiben und noch nachträglichen Begrüßungen, kommt der Zug des Dorfes bis zum Postwirt. Der steht am Fenster und bietet mit heiserer Stimme den Willkommentrunk. Nicht, daß er ein Geschäft dabei machen will; er käme sich unehrlich vor, wenn er etwas nähme für das, was er bietet als freies Geschenk. Der Trunk, den er bietet, ist sein Heimatgruß, ist Most, gegoren aus heimatlichem Obst. Andachtsvoll trinkt der Urlauber mehr den Duft als den Stoff — den Duft seiner Heimat.

Allmählich wird die Dorfgemeinde lebendiger und neugieriger um ihren Soldaten. Die Frauen bejammern seinen Anzug und versichern, diesen sogleich zu waschen. In den Männern erwacht der Schalk, sie spotten gutmütig über Vollbart und Läuse. Kinder fragen nach der Anzahl der von ihm gefangenen Russen. Burschen berauben ihn seines Seitengewehres und zücken es einander gegen die Eingeweide.
Und immer wieder bleibt man stehen und freut und wundert sich. Sieben Minuten braucht's für den Weg vom Bahnhof zum Dorfe in gewöhnlichen Zeitläuften. Wenn ein Urlauber kommt, reichen sie lange nicht. Ich habe erlebt, daß es Stunden gedauert, bis er endlich in der Kammer seiner Mutter war. Aber so ist es bei uns, wenn sie gehen und wenn [S. 58] sie kehren: erst die Gemeinde und hernach die Mutter.

Tagelang ist dann der Urlauber wieder Bauer, pflügt und eggt, sät oder erntet. Wie wohl ihm das tut! Wie er sich über seinen Pflug freut! Freilich im Felde sind seine Hände weich geworden und werden jetzt schwielig und wund. Aber er freut sich doch; auch über Schwielen und Blasen kann er sich freuen. Nur eines ärgert ihn: er ist nervös geworden. Er steigt auf die Leiter, um Obst zu brechen; aber seine Hände zittern und lassen die Apfel auf die Erde fallen. Er will seine alte Kuh vor den Wagen schirren; aber seine Finger vermögen kaum, ihr den Halfter anzunesteln. Der Urlauber lächelt verlegen und beginnt, sich und anderen einzugestehen, daß er doch nicht mehr der Alte sei.
So treibt er's wie früher und doch nicht wie sonst in den paar Tagen, die ihm vergönnt sind. Und erzählt morgens und abends als der Heimat größte Merkwürdigkeit, daß er ein Bett darinnen habe, in dem er nicht mehr schlafen könne.

Noch einmal erlebt er den schweren Abschied des ersten Auszuges. Allein, da „draußen" hat er so manches kennen gelernt, was ihm lieb geworden, sich an so manches gewohnt, was ihm anfangs schwer ans Herz gegriffen, daß er gelassen scheidet. Nicht so die Seinen; denn viele Tränen haben sie seit einem Jahr gesehen und haben geholfen, schwere Verluste zu tragen: so wird es ihnen bitterer als ihm.
Siebzig Jahre ist einer geworden, gerade als ihn sein Sohn auf Urlaub grüßte — fünfundsiebzig Jahre, als der Sohn wieder hinauszog. Und lagen doch nur sieben Tage dazwischen.


Personen: Herpel, Otto
Orte: Lißberg
Sachbegriffe: Fronturlauber · Russen · Bärte · Läuse · Ungeziefer · Landwirtschaft
Empfohlene Zitierweise: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 14: Lißberger Soldaten auf Heimaturlaub“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/89-21> (aufgerufen am 18.04.2024)