Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917

Abschnitt 21: III. Krankenbesuch bei Leutnant Rhode

[12-13] […] [S. 12] 10. Februar 1917.
Ich habe gestern in St. Maria-Viktoria den Leutnant Rhode besucht. Zwei Monate lang lag ich mit ihm zusammen im Schlamm am Toten Mann. In der letzten Nacht noch, die wir in vorderster Linie bei Verdun zubrachten, wurde er durch Volltreffer einer schweren Granate schwer verwundet. Beide Augen blind. Rechtes Bein zerschmettert; später amputiert.
Ich trat mit lautem Gruß bei ihm ein. Er erkannte mich an der Stimme, lachte und sprang mir auf einem Bein, die Hände tastend vorgestreckt, freudig entgegen. Das Holzbein stand in der Ecke am Bett; er konnte es [S. 13] nicht anschnallen, weil am Schenkelstumpf sich ein eiteriger Furunkel gebildet hatte.
Erloschene Augen, ein wundennarbiges Gesicht, ein amputiertes Bein! Und doch so geduldig und gefaßt, ja heiter und frohsinnig!
Mit großem Fleiß hat er die Blindenschrift erlernt. Seinen Briefwechsel erledigt er selbständig mit Schreibmaschine. Nur einen Menschen braucht er, der ihm Zeitungen und Bücher, die in Blindenschrift nicht zu haben sind, vorliest, und der ihn in die Oper und in die Kirche führt. Das Licht in seiner Nacht ist die Musik, und seine Sterne sind Wagner und Bach und Beethoven.
Er preist als Vorzug der Blindheit die erhöhte Fähigkeit geistig zu arbeiten, die stille, innere Sammlung, die Gedankenkonzentration, wie sie einem Sehenden nicht möglich sei.

Er hat ein dunkles, braunäugiges Mädchen, das treu zu ihm steht und gegen den väterlichen Willen nicht abläßt von seiner Liebe.
Solange es solche Mädchen gibt, ist Frauenverehrung kein leerer Wahn!


Personen: Bach, Johann Sebastian · Beethoven, Ludwig van · Egly, Wilhelm · Rhode, Leutnant · Wagner, Richard
Orte: Friedberg
Sachbegriffe: Briefe · Furunkel · Granate · Kirche · Liebe · Musik · Oper · Schreibmaschine · Tagebücher · Verwundung
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917, Abschnitt 8: III. Krankenbesuch bei Leutnant Rhode“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/65-21> (aufgerufen am 15.05.2024)