Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Karl Wilhelm von Meister, Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Wiesbaden an den Kaiser, 1914-1918

Abschnitt 21: Bericht vom 23. April 1918 (3)

[1122-1123] Volksernährung und Versorgung in Stadt und Land. Mitwirkung der Behörden hierbei. Gesundheitsverhältnisse

Die Ernährung der selbstversorgungsberechtigten landwirtschaftlichen Bevölkerung ist ausreichend gegenüber der knapp bemessenen Menge von Nahrungsmitteln, mit der sich die städtische Bevölkerung begnügen muß sogar immer noch als recht gut zu bezeichnen. Auch die kürzlich vorgenommene Kürzung der Getreideration der Selbstversorger von 8 1/2 kg auf 6 1/2 kg wöchentlich wird ertragen. Sehr viel ungünstiger ist die nicht selbstversorgungsberechtigte Bevölkerung in den Landorten gestellt. Die behördlichen Zuweisungen an Nährmitteln und Fett an diesen Teil der Bevölkerung sind zur Zeit ganz unzureichend, hier müssen schon die Selbstversorger aushelfen. Bei der städtischen Bevölkerung haben sich die Ernährungsverhältnisse günstiger gestaltet als im Winter 1916/17. Dies ist vor allem der besseren Versorgung mit Kartoffeln zu verdanken, nachdem die vorjährige Ernte eine vorzügliche und gut haltbare Kartoffel geliefert hat.

In den großen Städten konnte das Fleisch in der vollen Wochenhöhe von 250 gr bisher gewährt werden. Ob dies aufrecht erhalten zu werden vermag erscheint leider recht zweifelhaft, weil in letzter Zeit die Aufbringung des Schlachtviehs in verschiedenen Kreisen des Bezirks zunehmenden Schwierigkeiten begegnet. Das Schlachtvieh entspricht zwar an Zahl nach [wie vor] noch den vorgeschriebenen Ziffern, infolge der Futtermißernte des vergangenen. Jahres sind aber die Tiere meist unterernährt. Es fehlt also an Fleischgewicht; dabei geht die Rindviehhaltung dauernd zurück. Die Ferkelpreise sind ungeheuer gestiegen - 120 bis 140 M. für ein 5 Wochen altes Ferkel -, kleine Leute sind deshalb nicht mehr in der Lage, sich Ferkel zum Fettmachen anzuschaffen. Fällt aber im Herbst ein gutes Teil der seither üblichen Hausschlachtungen aus, so werden die Betroffenen anderweit mit Frischfleisch und Fett versorgt werden müssen. Ob und inwieweit dies möglich sein wird, ist von hier aus nicht zu übersehen. Aus dem Bezirk selbst kann nicht geholfen werden.

Große Schwierigkeiten bereitet in den großen Städten nach wie vor die Milchversorgung, wenn auch infolge der scharfen Maßnahmen der Bezirksfettstelle kleine Besserungen verzeichnet werden können. Um dem großen Notstande bei der Zuteilung von Milch an die versorgungsberechtigten Kinder abzuhelfen, ist die Stadt Frankfurt a.M. dazu übergegangen, Milch in eigener Wirtschaft zu beschaffen. Nachdem sie zunächst eine größere Menge von Milchkühen angeschafft und bei Landwirten eingestellt hatte, pachtet sie jetzt größere Besitze [!] an mit dem ausgesprochen Zwecke, dort Milchwirtschaft einzuführen, um die gewonnene Milch für die Säuglingsernährung zu verwenden. Abschließende Erfahrungen über den Erfolg des Unternehmens liegen noch nicht vor. Die Zuweisungen von Butter und Fett halten sich immer noch in sehr bescheidenen Grenzen. Es besteht kein Zweifel, daß die Bevölkerung gerade unter dem Fettmangel ganz besonders leidet.

Die Versorgung der Bevölkerung mit Nährmitteln (Graupen, Grieß, Haferflocken und dergl.) war den sehr knappen Vorräten entsprechend überall ungenügend, sie blieb weit hinter dem Bedarf zurück. Die Zufuhren von Fischen, sowohl frischen wie geräucherten, haben jetzt so gut wie ganz aufgehört. Wenn es trotz dieser Verhältnisse nicht zu ernsten Notständen [1123] gekommen ist und die Bevölkerung sich mit den gegebenen Verhältnissen abgefunden hat, so ist dies allein der seither ungestört möglich gewesenen Versorgung mit Kartoffeln zu verdanken. Gelingt es, wie zu hoffen, die bisherige Kartoffel- und - wenn nur irgend angängig - auch die derzeitige Brotration bis zur neuen Ernte durchzuhalten, so wird - zumal, wenn die allgemeine gute Zuversicht erhalten bleibt - die Bevölkerung auch die kommenden knappen Monate in Ruhe und Geduld ertragen.

Der Umstand, daß schon jetzt infolge der günstigen Witterung, also 4 Wochen früher als im Vorjahre, Früh- und Wildgemüse sowie Gartenerzeugnisse hereingebracht werden, deren Wert als Lebensmittelstreckungsmittel nicht zu unterschätzen ist, wirkt recht erleichternd. Allerdings kann nicht verschwiegen werden, daß weite Kreise der Bevölkerung aller Schichten unter dem Einfluß der außerordentlichen Knappheit geradezu gezwungen sind und wohl auch weiter gezwungen bleiben werden, Lebensmittel, die der öffentlichen Bewirtschaftung unterliegen, im Schleichhandel oder unmittelbar von den landwirtschaftlichen Erzeugern zu erwerben. Gegen den gewerbsmäßigen Schleichhandel wird mit allen Mitteln vorgegangen. Auch dem unmittelbaren Einkauf von Lebensmitteln bei den Landwirten durch die Verbraucher wird nach Möglichkeit entgegengetreten. Doch wird sich dies schwer ganz ausrotten lassen, solange die behördlichen Lebensmittelzuweisungen ungenügende bleiben und es nicht gelingt, bei den Erzeugern alle Lebensmittel, die nicht für ihren eigenen Unterhalt notwendig sind, auch wirklich restlos zu erfassen. Die Landräte und ihre Organe arbeiten mit zunehmendem Erfolge an der Erfassung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse.

Die Mitwirkung der Behörden bei Bewältigung der Lebensmittelschwierigkeiten bewegte sich befriedigend in den bisherigen Bahnen. Besonders verdient hervorgehoben zu werden, daß auch die Stadtverwaltungen der großen und größeren Städte in der Organisation der Lebensmittelversorgung der Bevölkerung Mustergültiges geleistet haben. Die Verteilung der Lebensmittel geht reibungslos vonstatten. Die Bevölkerung hat sich an das Kartensystem gewöhnt. Gelegentliche Klagen beruhen meist auf einer Verkennung der großen Schwierigkeiten, welche von den an der Verteilung beteiligten Stellen zu überwinden sind.

Zwischen der Hessischen Landesgemüsestelle in Mainz und der diesseitigen Bezirksstelle für Obst und Gemüse sind Vereinbarungen in Vorbereitung, welche darauf abzielen, die Gemüselieferungen aus dem Großherzogtum Hessen, auf die besonders die Großstädte Frankfurt a.M. und Wiesbaden von jeher angewiesen waren, zu fördern. Es hat überhaupt den Anschein, daß sich nach langen Kämpfen allmählich ein besseres Arbeiten mit dem Großherzogtum Hessen angebahnt hat.


Personen: Meister, Karl Wilhelm von
Orte: Frankfurt · Mainz · Wiesbaden
Sachbegriffe: Ernte · Gemüsebau · Lebensmittelkarte · Mengenrationierung · Schwarzhandel · Versorgungskrise · Verwaltung · Viehwirtschaft · Zuteilung
Empfohlene Zitierweise: „Karl Wilhelm von Meister, Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Wiesbaden an den Kaiser, 1914-1918, Abschnitt 35: Bericht vom 23. April 1918 (3)“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/32-21> (aufgerufen am 02.05.2024)