Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917

Abschnitt 39: V. Berméricourt

[101-104] Am Brimont, 1. August.
Das Dorf Berméricourt ist wie fast alle Dörfer, durch die oder um die herum die vorderen Gräben laufen, in Grund und Boden geschossen. Weder Straßen noch Plätze sind zu erkennen, die Häuser bis auf die Fundamente vernichtet. Ein wüster, wirrer Steinhaufen. Wenn dereinst Friede sein wird, und die Bewohner kehren zurück, hoffenden Herzens vielleicht — sie werden aufschreien zum Himmel, über die Trümmer irren und die Stätten sagenhaft friedlicher Vergangenheit suchen — und nichts als unkraut- und wildblumenüberwucherte Schutthaufen finden. Arme Menschen, die [S. 102] ihr eine neue Heimat suchen müßt? Auf diesem Schutt lassen sich keine neuen Häuser bauen. Diese niedergekrachten, zersplitterten Wälder, die keine Wälder, nur totes, zerfasertes Holz sind, lassen sich nicht wieder aufforsten! Auf dieser, aus der Tiefe emporgeschleuderten, zu Staub zermalmten Kreide läßt sich kein Weizen säen! Und wenn dennoch der Pflug über diese kratergesiebte, tote Erde gehen sollte, so wird er Gewehre und Bajonette, Granaten und Menschenleiber ans Licht schaufeln . . .
Arme, unwissende Menschen! Ihr ballt die Faust und verflucht zähneknirschend den sale boche und wünscht ihn cent pieds sous la terre. So las ich heute im Brief einer Tante an einen poilu. Der arme Kerl war bis an die Brust verschüttet. Liebe Tante, warum ist der Leib deines Neffen zerquetscht und wie tausend andere irgendwo, wo du ihn nie mehr finden wirst, im Sande verscharrt? Dein Volk könnte Frieden haben, wenn ihr uns nur in Ruhe lassen und unserem deutschen Vaterhaus nicht die Fensterscheiben einschmeißen wolltet, durch die wir in die Welt hinausgeschaut und ihre Schönheit erkannt haben! Wenn ihr zur Einsicht gekommen seid, daß wir alle gleiches Recht haben auf die große Erde und die weiten Meere, daß man dem Nachbar nicht Steine in die Fenster wirft, durch die er über die Länder blickt — dann, ja dann kann Frieden werden! Und wir werden die Fenster weit, weit öffnen und in hohem Flug und heißem Drang über die Meere eilen, über die freien Meere nach fernsten Gestaden — und überall arbeiten, arbeiten, arbeiten! —
[…] [S. 103]
In der vergangenen Woche herrschte eine glühende Hitze; bis 45 Grad. In der letzten Nacht aber wurde es kühl, fast kalt. Nach Mitternacht fing es an zu regnen. Noch immer — es ist schon wieder stockfinstere Nacht — strömt der rauschende Regen. [S. 104] Es wäre eine Lust, jetzt den frischen Bewegungskrieg in Galizien mitzumachen trotz aller Mühseligkeiten der großen Märsche: Immer 'ran an den Feind und vorwärts! So aber müssen wir hier einen aussichtslosen Krieg gegen Schlamm und Regen führen.

2. August.
Aus dem kleinen Dorffriedhof poltern zwei schwere Geschütze. In einer Ecke der geborstenen oder eingeschossenen Kirchhofsmauer.
Die Kanoniere wohnen in engen, steilen Stollen tief unter den Gräbern.
Ueber den Lebenden schlafen die Toten . . .
Warum auch nicht? Die Toten sind friedlich.

5. August.
Ich besuche meinen Bruder in einem entfernten Waldlager.
Den Heimritt unterbreche ich durch ein kaltes Bad in der schnellen Suippes.
Es ist spät geworden. Die Nacht überrascht mich. […]


Personen: Egly, Wilhelm
Orte: Berméricourt · Friedberg
Sachbegriffe: Brief · Dorf · Familie · Fenster · Friede · Friedhöfe · Geschütze · Heimat · Granaten · Kanoniere · Steinhaufen · Tagebücher · Tote · Weizen · Zerstörung
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917, Abschnitt 39: V. Berméricourt“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/65-39> (aufgerufen am 01.05.2024)