Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Johann Victor Bredt, Erinnerungen des Marburger Rechtsprofessors und Politikers, 1914-1921

Abschnitt 11: Gründung der Wirtschaftspartei

[159-161]
Hatte mich der Kapp-Putsch innerlich los gemacht von den Deutschnationalen, so machte mich diese Tagung innerlich reif für die Wirtschaftspartei1. Es wurde mir klar, daß es so nicht weiter ging, daß wir mit den ständigen Mehrbewilligungen dem finanziellen Abgrund zusteuerten. Es wurde mir vor allem klar, daß der Schutz der Gewerbetreibenden und Grundbesitzer ein Gebot der Stunde war. Jene Rede war völlig so, daß ich sie später in der Partei hätte halten können. Von da an wußte ich, was ich politisch wollte.

Nun kam ein seltsames Nachspiel hinzu. Jene Arbeitsgemeinschaft war eher alles andere als eine Partei, und das gerade war mir so sympathisch. Ich hatte auch nicht im allermindesten vor, eine neue Partei zu begründen nach meinen Ansichten. Es erschien aber jetzt in den Zeitungen ein Bericht über die neue Fraktion auf dem Kommunallandtag, und dabei war ich an führender Stelle genannt. Es dauerte nicht lange, da wurde ich von allen Seiten darauf angesprochen, daß ich ja eine neue Partei gegründet hätte. Als ich das weit von mir wies, merkte ich bald, daß man mir nicht glaubte und die neue Partei als eine Tatsache ansah. Und als ich nun ein halbes Jahr später wirklich mit dem Programm einer neuen Partei herauskam, da sagte mir der Marburger Oberbürgermeister [Troje]2: „Wir wußten es ja alle schon seit einem halben Jahre, daß Sie eine neue Partei gründeten." Trotzdem ist leider von den Herren, mit denen ich damals zusammen in der Arbeitsgemeinschaft war, kein einziger zur Wirtschaftspartei gekommen. Es bleibt nur die Tatsache bestehen, daß ich innerhalb der Arbeitsgemeinschaft zum ersten Male mir selbst klar wurde über mein eigenes politisches Programm.

Meine Erfahrungen bei den Marburger Stadtverordneten [1919—1921] konnten mich in solcher Überzeugung nur bekräftigen. Unsere Fraktion bestand aus den Deutschnationalen, den Volksparteilern und einem Zentrumsmann, aber diese Unterschiede fielen nicht ins Gewicht. Es stellte sich niemals ein grundsätzlicher Gegensatz zwischen den Parteiangehörigen heraus. Um so mehr fielen andere Unterschiede ins Gewicht. Auch in der Stadt Marburg ging es in jener schlimmen Zeit lediglich um die Frage, um die es allenthalben ging: um die Besoldung der Beamten und Angestellten. Ständig wurden neue Ämter und Stellen geschaffen und ständig kamen neue Ansprüche. Wie im Bezirksverband so wurden auch in der Stadt die öffentlichen Mittel durch die Besoldungen erschöpft, für die eigentlichen Verwaltungsaufgaben blieb kaum noch etwas übrig. Stellte sich dann heraus, daß die Mittel nicht mehr reichten, dann wurden kurzerhand die Realsteuern erhöht.

Die Parteizugehörigkeit hatte offensichtlich keinen Einfluß auf die Stadtverordneten bei diesen Fragen. Was vielmehr entscheidend ins Gewicht fiel war der Berufsstand, dem der einzelne angehörte. Die Beamten und Angestellten hatten die Majorität in der Stadtverordnetenversammlung und bewilligten sich gegenseitig ohne Bedenken alles, was sie verlangten. Besonders die eigenen Beamten und Angestellten der Stadt Marburg, die nach den neuen Gesetzen wählbar waren, betätigten sich in dieser Hinsicht. Die Minderheit der Gewerbetreibenden, Handwerker und Hausbesitzer mußte dasjenige aufbringen, was die [S. 161] Beamten und Angestellten sich bewilligten, ohne daß sie einen entscheidenden Einfluß besaßen.


  1. Die vollständige Bezeichnung der Partei war bis 1925: Wirtschaftspartei des deutschen Mittelstandes.
  2. Paul Troje (1864-1942), 1907-1924 Oberbürgermeister der Stadt Marburg.

Personen: Bredt, Johannes Victor · Troje, Paul
Orte: Marburg
Sachbegriffe: Kapp-Putsch · DNVP · Wirtschaftspartei des deutsches Mittelstandes · Kommunallandtage · Oberbürgermeister · Stadtverordnete · DVP · Zentrumspartei · Parteien
Empfohlene Zitierweise: „Johann Victor Bredt, Erinnerungen des Marburger Rechtsprofessors und Politikers, 1914-1921, Abschnitt 11: Gründung der Wirtschaftspartei“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/62-11> (aufgerufen am 28.04.2024)