Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Julius Reuch / Heinrich Weber, Kirchenchronik von Groß-Felda

Abschnitt 1: Julikrise und Mobilmachung in Groß-Felda

[614] Aus der Ruhe stiller Friedensarbeit, die uns noch im Juni 1914 den Besuch der englischen Flotte brachte, wurden wir am 28. Juni 1914 durch die Ermordung des österreichischen Tronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand und die sich daran anschließenden diplomatischen Ereignisse jä herausgetrieben und blickten in den Höllenschlund einer gegen uns aufstehenden feindlichen Welt. Der Kaiser griff zum Schwerte von schmerzlichem Zorn entflammt. Es verstummte mit einem Schlag der Hader der Parteien, und vor dem Berliner Königsschloß brachten unzählige Scharen dem Kaiser das Gelöbnis unwandelbarer Treue dar. Das waren große erschütternde Stunden und selten ist das Dichterwort: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los," so zur Wahrheit geworden. Wir standen an der Schwelle einer neuen Zeit und die eisernen Würfel rollten um Deutschlands Zukunft. Als am 1. August, einem sommerheißen Samstag, abends zwischen 6 u. 7 Uhr der Mobilmachungsbefehl bekannt wurde, waren wir wohl das einzige Volk, das in sicherer Ruhe bis zum letzten Augenblick Gewehr bei Fuß gestanden hatte. Nach drei Tagen vor der Mobilmachung haben nur ganz Wenige in unserem Dorf an den Ernst der Lage geglaubt. Die Kornernte hatte begonnen. Da hat der Landmann keine Zeit, sich um die hohe Politik zu kümmern. Auch hatte man in den letzten Jahren schon so oft von Kriegsgefahren gesprochen, daß man sich gern der Hoffnung hingab, auch diesmal werde das drohende Unwetter wieder vorüberziehen.

In der Nacht von Freitag auf Samstag (31. Juli - 1. August) wurden die Bewohner des Pfarrhauses durch den hellen Schein einer Radfahrerlaterne u. lautes Klingeln aus unruhigem Schlaf geweckt. Als ich das Fenster aufgerissen hatte, hörte ich unten in großer Erregung eine bekannte Stimme: „Herr Pfarrer, es gibt Krieg". Es war der Schulverwalter Eichenauer, der an diesem Tag seinen herzleidenden Vater nach Bad Nauheim gebracht hatte. Er, der bis zuletzt auf den Frieden gebaut hatte, war von dem Kriegslärm, der auf der Eisenbahn schon am Vorabend herrschte, so erfüllt, daß der drohende Weltkrieg ihm schon zur Gewißheit geworden war. In dieser Nacht haben Viele im Dorf schon keinen rechten Schlaf mehr finden können. Mit Unruhe und Sorge im Herzen brach der nächste Morgen an. Was wird der neue Tag uns bringen? Es waren Stunden ungeheurer Spannung, die man auf allen Gesichtern lesen konnte. Die täglichen Sorgen wurden klein, die Schranken, die Neid und Mißgunst, Haß und Hochmut unter den Menschen aufgerichtet, verschwanden unter dem Druck des furchtbaren Unheils, von dem sich jeder bedroht fühlte. So kam der Samstag abend herbei, an dem das Wort „mobil" alle Spannung löste und das furchtbare Schicksal eines Krieges allen zur Gewißheit werden ließ, der wie kein anderer die Existenz unseres Volkes bedrohte. Bei gedämpfter Drommelklang wurde der Mobilmachungsbefehl Sr. Majestät, des Kaisers, in allen Straßen des Ortes öffentlich bekannt gemacht. An dem Gittertor des Otto Völzing'schen Hofes prangte das inhaltschwere Schriftstück, und aus dem ganzen Dorf kamen die Wehrpflichtigen mit ihren Angehörigen, darunter Frauen und Kinder, um sich von der harten Wirklichkeit eines unabwendbaren Schicksals zu überzeugen. Die Stimmung war ernst, aber gefaßt. Dankbar wurde die Einladung des Pfarrers, der am nächsten Tag auf dem Missionsfest in Bernsburg die Festpredigt halten sollte, zu dem so plötzlich notwendig gewordenen Kriegsgottesdienst angenommen. Allen Teilnehmern wird die ernste Feierstimmung unvergeßlich sein. Kriegstext war Ps. HI/9.


Personen: Franz Ferdinand, Österreich, Erzherzog · Wilhelm II., Deutsches Reich, Kaiser · Reuch, Julius
Orte: Bad Nauheim · Groß-Felda · Bernsburg
Sachbegriffe: Attentat von Sarajewo · Julikrise · Augusterlebnis · Mobilmachng · Erntearbeiten · Pfarrer · Eisenbahn · Kriegsgottesdienste
Empfohlene Zitierweise: „Julius Reuch / Heinrich Weber, Kirchenchronik von Groß-Felda, Abschnitt 1: Julikrise und Mobilmachung in Groß-Felda“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/28-1> (aufgerufen am 18.04.2024)