Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Erlebnisse des August Heep aus Biebrich in russischer Gefangenschaft, 1914-1918

Abschnitt 8: Krankenpflege in der Gegend von Petrona

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An 28. Dezember wurde ich gegen Abend zu einem schwer kranken Kinde auf eine Kolonie 25 km von Pretona entfernt, abgeholt. Das Wetter war sehr schön; als wir kaum ¾ Stunde fuhren, erhob sich ein Schneesturm, dass man die Hand nicht mehr vor sich sah. Wir fuhren aber drauf los. Auf einmal blieben die Pferde stehen und wir sahen, dass wir uns verirrt hatten. Nun was machen? Es war gut, dass wir mit gutem Pelz und Filzschuhen versehen waren. Wir harrten nun drei Stunden so, bis das Wetter sich etwas aufklärte. Endlich um 11 Uhr Nachts kamen wir an unserem Ziele an. Ich blieb über Nacht beim kranken Kinde, und fuhr erst am anderen Tage zurück. Diesen Fahrten ist man sehr oft ausgesetzt; es ist schrecklich ein solches Schneegestöber mitzumachen. Man ist gewöhnlich direkt beim Ort, und weiss es nicht; gar mancher Russe musste dabei sein Leben lassen, wenn er nicht genügend mit Pelzwerk versehen war.

Die meisten Sorgen hatte ich im Winter. Da gab es erfrorene Füsse, Zehen, Finger, Ohren und dergl. Die Leute waren immer schrecklich zugerichtet. Bei einem musste ich am rechten Fuss sämtliche Zehen, bei einem anderen die grosse Zehe, abnehmen. Das Frühjahr brachte nun wieder Influenza und Erkältungen, und auch Malaria. Mir verging mancher Tag zu schnell, so war ich in Anspruch genommen. Der einzige Tag, an dem ich Ruhe hatte, war der Sonntag und das war meine Erholung.

Im Februar wurde Frl. CI. wieder abberufen, und ich erhielt dafür zu Pfingsten 2 Schwedinnen. Bis zum 24. Oktober 1918 (dem Tag meiner Flucht) behandelte ich 7000 Patienten verschiedener Krankheiten, wie Typhus, Cholera (5 Fälle mit Tod) Diphterie, Malaria, Lungenentzündung und dergl. mehr. Wegen Mangel an Chinin musste ich die letzte Zeit bei Malaria Chinineinspritzungen machen. Wundbehandlung hatte ich auch ziemlich häufig auszuführen, sowie Entfernung von Fremdkörpern aus den Händen, Füssen und Fingern. Augenentzündungen gab es sehr viele. Die Zahl der Lungenkranken war enorm. Fast alles litt an Unterernährung, denn die Hauptsache, das Gemüse fehlte. Sämtliche Salben fertigte ich selber an. Krätzssalbe habe ich alle Tage [S. 13] gemacht, so stark war diese Krankheit vertreten.

Am 30. April musste ich zu einem Typhuskranken nach Kol. Selonaje, welches im Tal liegt. Da nun Schneeschmelze war und der Schnee sehr hoch liegt, und weich ist, so konnte ich den Schlitten nicht mehr benutzen, sondern musste schon auf dem Pferde versuchen nach dort zu gelangen. Morgens um 3 Uhr liess ich mein Pferd satteln, und nahm zum Schutz den Pferdeburschen beritten mit. Wir ritten nach Norden ca. ¼ Stunde, als wir an eine Multe kamen, die wir passieren mussten, war es unmöglich durchzukommen, denn der Schnee ballte sich und blieb an den Hufen der Pferde hängen. Die Pferde quälten sich nun im Wasser, und standen bis an den Bauch darin. Wir ritten dann nach Westen. Zu Anfang ging alles sehr gut, auf einmal brach das Pferd meines Begleiters ein, und man sah nur noch den Kopf des Tieres; rasch eilte ich zu Hilfe und es gelang mir das Pferd wieder herauszuziehen. Wir ritten nun den ganzen Vormittag, und versuchten über die Mulde, welche wir passieren mussten, zu gelangen, aber immer vergebens. Die Hälfte ging gut, als ich aber in die Mitte kam, musste ich so schnell als möglich umkehren, denn der Schnee gab nach, und ich wäre verloren gewesen. Ich musste nun 8 Tage warten, bis das Tauwetter vorbei war. Gott sei Dank war der Kranke nicht schlimmer geworden, und befand sich auf dem Wege der Besserung. Am 15. Juni richtete ich auf eigene Kosten ein Soldatenzimmer ein, worin ich drei bis vier Soldaten vorübergehend unterbrachte, denn es war schrecklich, und das Herz konnte einem bluten, wenn man die armen Teufel mit zerrissenen Kleidern und verhungert von Haus zu Haus betteln gehen sah; niemand kümmerte sich um die Soldaten, welche ganz auf sich angewiesen waren. In meiner Nähe etwa 40 km weit lag ein Militärlager (Totzki) wo 15.000 Soldaten, an Hungertyphus gestorben, beerdigt liegen, und von dort kamen täglich die armen Kerle und bettelten ihr täglich Brod. Ich verlangte nun von jedem Russen für die Behandlung 3 Rbl. und richtete eine Soldatenkasse ein, wovon ich dann vorerst die kranken Soldaten, und dann die gesunden welche bettelten, unterhielt.


Personen: Heep, August · Geffchen, Cl.
Orte: Petrona · Selonaje · Totzki
Sachbegriffe: Kolonien · Wolgadeutsche · Kinder · Pferde · Schneestürme · Russen · Amputationen · Erfrierungen · Influenza · Malaria · Schweden · Typhus · Cholera · Diphterie · Lungenentzündung · Chinin · Lungenkranke · Unterernährung · Krätze · Krätzsalbe · Soldaten · Hungertyphus
Empfohlene Zitierweise: „Erlebnisse des August Heep aus Biebrich in russischer Gefangenschaft, 1914-1918, Abschnitt 8: Krankenpflege in der Gegend von Petrona“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/122-8> (aufgerufen am 28.03.2024)