Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Erlebnisse des August Heep aus Biebrich in russischer Gefangenschaft, 1914-1918

Abschnitt 10: Flucht in den Wirren der Oktoberrevolution

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Am nächsten Tage fuhren wir weiter, und kamen um 4 Uhr in Russuluk an. (8 Tage vorher hatten hier sehr schwere Kämpfe stattgefunden.) Zuerst machten wir uns auf die Suche nach einen Quartier, und fanden auch zwei kleine Zimmer. Hier wurden wir nun fünf Tage festgehalten, da uns gleich bei der Einfuhr in die Stadt mitgeteilt wurde, dass wir ohne Erlaubnis sie nicht verlassen dürften, da die Stadt noch im Operationsgebiet liege. Hier herrschten nun schreckliche Zustände. Die Bolschewiki hatten alles beschlagnahmt, sämtliche Läden waren, teils leer geräumt, teils ausgeplündert. Wohlhabende hatten ihre Häuser und Möbel im Stich gelassen , und waren geflohen. Die schönsten Häuser wurden von den Bolschewiki als Kasernen und Vergnügungslokale benutzt; es war eine Schande wie diese Räuber - anders kann man sie nicht nennen - hausten. Es wurde alles von 14 Jahren an angeworben, und erhielt jeder ausser freier Station monatlich 300 Rubel = 600 Mark. Das Geld spielte keine Rolle, man nahm es eben aus den Geschäften und Fabriken, welche die Bolschewiki an sich gezogen hatten. Den ganzen Tag zog das Militär mit roter Fahne und Musik durch die Stadt; fast in jeder Strasse befand sich ein Werbebureau. An einem Hause las man sogar in deutscher Schrift geschrieben: „Werbebureau für deutsche Soldaten.“

An einem Nachmittag, als ich durch die Strassen ging, begegneten [S. 16] mir ungefähr 1000 Soldaten; ich sah es auf den ersten Blick, dass es nicht Russen, sondern Deutsche und Oesterreicher waren. Ich folgte dem Zug; vor einem Hotel wurde Halt gemacht. Auf dem Balkon erschien nun der Kommandant von Russuluk, ein Mensch von 22 Jahren (Gläser aus Wien, oesterr. Soldat) und bewillkommte die Nationalgarde, schimpfte auf die Deutschen, und erklärte den Soldaten, dass in Deutschland Revolution sei. Wir müssen, so sagte er, mit Deutschland Hand in Hand gehen, um dorten den Bolschewismus einzuführen. Das Herz konnte einem bluten. Von den Soldaten trat niemand freiwillig zu den Bolschewiki über. Wie ich schon erwähnte, waren die Soldaten auf sich selbst angewiesen, niemand kümmerte sich um die armen Menschen. Eines Tages erliess der Kommandant einen Befehl, dass sämtliche Soldaten im Lager zusammen kommen sollten. Nun erklärte er: „Zwingen kann ich niemand zu den Bolschewiki überzutreten, aber von heute an darf niemand mehr aus dem Lager heraus". Was sollten nun die Leute machen ? Verhungern oder übertreten ? sie wählten das Letztere. Da ich nun im Besitze von genügend Papieren war, welche ich mir besorgt hatte, so half ich 3 Soldaten durch, welche sich auch sofort auf die Flucht machten. Da ich nun täglich zum Kommandanten ging wegen der Weiterreise, erhielt ich wirklich am 6. Tage einen Schein für mich und einen Soldaten (durch Bestechung wurde mir der Schein ausgestellt). Mit ihm fuhr ich zusammen nach Samara, wo wir nach 3 Tagen ankamen. Bevor wir Russuluk verliessen traf ich eine von den Familien, welche den Räubern in die Hände gefallen war; schrecklich muss es gewesen sein, und ich war froh, dass ich nicht dabei war. Die Frau musste sich im Walde ganz auskleiden, wurde untersucht, und ihr 1300 Rubel abgenommen, sowie verschiedene Schmucksachen. Ferner musste die Frau sämtliche Ringe ausziehen. Als sie einen Ring schlecht ausbekam, wollten sie ihr den Finger abschneiden; dem Mann sowie den anderen ging es ebenso.


Personen: Heep, August · Gläser, Revolutionär
Orte: Russuluk · Wien · Samara
Sachbegriffe: Bolschewiken · Kriegsgefangene · Nationalgarde · Novemberrevolution · Oktoberrevolution · Soldaten
Empfohlene Zitierweise: „Erlebnisse des August Heep aus Biebrich in russischer Gefangenschaft, 1914-1918, Abschnitt 10: Flucht in den Wirren der Oktoberrevolution“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/122-10> (aufgerufen am 16.04.2024)