Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Erlebnisse des August Heep aus Biebrich in russischer Gefangenschaft, 1914-1918

Abschnitt 3: Weiterfahrt über Moskau und Samara nach Orenburg

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Endlich kamen wir in Moskau an; von der Stadt aber bekamen wir nichts zu sehen; hier lagen wir nun 1 Tag. Abends 6 Uhr ging es weiter nach Samara1; bei Süssrahn2 passierten wir die Wolga (1 ½ km breit). Wir bekamen von dem berühmten Fluss und der Brücke nichts zu sehen; sämtliche Wagen, Fenster und dergl. mussten geschlossen werden, und in jeden Wagen wurde 1 Soldat als Posten gestellt, damit von uns aus nichts unternommen werden konnte, die Brücke zu sprengen, denn diese Strecke ist die Hauptader von Sibirien nach dem inneren Russland. Unterwegs bekamen wir nichts als große Truppentransporte zu sehen, welche sich wie eine Schnecke vorwärtsbewegten. Endlich - nach 11 Tagen - gelangten wir nach Orenburg3 morgens 10 Uhr; wir lagen nun auf der Steppe (Wüste) bis abends 10 Uhr. Bei Fackelbeleuchtung kamen wir in den Tauschhof - ein Raum für ca. 4000 Personen. Kein Licht keine Kerze war zu sehen, wir waren nur auf unsere Zündhölzer angewiesen (sobald wir ankamen wurden nämlich die Pechfackeln gelöscht).

Vor Hunger und Müdigkeit legten wir uns hin. Als wir des Morgens erwachten, oh welch ein Graus! An der Wand liefen tausende von Totenkäfern herum. Ich stürmte ins Freie, aber dort wurde mir ein noch viel schlimmeres Bild geboten ! Tagszuvor kam auch ein Trupp an, welcher nur beschäftigt war, aus ihren Ställen - anders konnte man die Räume nicht nennen - alte verweste Felle, verweste Tiere, Kadaver und allerlei Unrat herauszuschaffen; es war ein Geruch nicht zum aushalten! Ratten liefen mehr als Menschen herum, denn in der Mitte des Hofes war ein hoher Haufen Felle aufgespeichert, worunter sich diese Tiere aufhielten. Wir bekamen morgens heisses Wasser für Tee, mittags eine Suppe und abends wieder heisses Wasser, sowie täglich 1 Pfund Brod. Nach 3 Tagen kamen wir von unserem schönen Quartier fort ca. 1000 Mann. Bei strömenden Regen kamen wir nach der schönen Tatarenstadt Kargala4 ca. 40 km von Orenburg; dieser Weg wurde uns wie zu einer Ewigkeit. Nachts um 1 Uhr kamen wir nun dorten an, und wir wurden, je 100 Mann, in Schulen [S. 5] untergebracht. Am anderen Morgan wurde ich von einem sehr reichen Tataren zum Mittagessen eingeladen. Von den Frauen (er hatte 3 Stück) bekam ich nichts zu sehen, denn sobald ein Mann das Haus betritt, dürfen die Frauen sich nicht zeigen. Ich musste, bevor ich die Wohnung betrat, meine Hände waschen und die Schuhe ausziehen. Sämtliche Arbeiten am Tisch erledigte der Tatar selbst. Das Essen bestand aus Tee und Brod, eingemachten Früchten, einem fetten Hammelbraten mit verschiedenen Beilagen und zuletzt Pferdemilch - ein Nationalgetränk der Tataren. Unsere Mahlzeit wurde am Tisch eingenommen (sonst sitzen sie beim essen im Kreis herum auf der Erde).


  1. Samara [Сама́ра], Stadt an der Wolga in Südrussland.
  2. Syzran [Сызрань] an der Wolga westlich Samara.
  3. Orenburg [Оренбу́рг] Stadt im Südosten Russlands nahe der Grenze zu Kasachstan. Der durch Orenburg fließende Fluss Ural bildet die Grenze zwischen Europa und Asien.
  4. Heute Tatarskaya Kargala [Татарская Каргала], am Fluss Sakmara, etwa 24 km nördlich von Orenburg.

Personen: Heep, August
Orte: Moskau · Samara · Syzran · Wolga · Sibirien · Russland · Orenburg · Kasachstan · Ural · Tatarskaya Kargala · Kargala
Sachbegriffe: Truppentransporte · Zivilgefangene · Hunger · Schmutz · Tataren
Empfohlene Zitierweise: „Erlebnisse des August Heep aus Biebrich in russischer Gefangenschaft, 1914-1918, Abschnitt 3: Weiterfahrt über Moskau und Samara nach Orenburg“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/122-3> (aufgerufen am 25.04.2024)