Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Karl Veidt, Als Divisionspfarrer im Argonnerwald, 1914-1917

Abschnitt 6: Gottesdienste

[130-132]
Wieder eine andere Welt, ein Kampfgebiet mit eigenem Charakter, ist das Bois de Ville. Weit springt seine Spitze nach Süden vor. Im Ausbau der Stellung konnte hier, wo der Wald gute Deckung bot, Musterhaftes geleistet werden. Die Regimenter, die den Wald gestürmt haben, haben in ihm auch gute Wacht gehalten. Hier haben wir unter rauschenden Eichen eine Reihe von Gottesdiensten gehalten, nur einige hundert Meter hinter der vordersten Linie. Ich weiß, daß gerade diese Gottesdienste vielen unvergeßliche, schöne Erinnerungen sind. Die Granaten sangen ihr eisernes Lied dazu. Das war damals, als unsere Bataillone noch keine regelmäßige Ablösung hatten. Der Feind hat nichts davon gemerkt. Man kann es jetzt ruhig erzählen, denn wir haben es nicht mehr nötig, mit den Gottesdiensten so weit nach vorn zu gehen. Wir haben in den Ruhequartieren genug Gelegenheit dazu.

Auch unsere Feldgottesdienste haben viel dazu mitgeholfen, uns in der fremden Welt eine Art Heimatgefühl zu schaffen. Die Pfarrer beider Bekenntnisse haben dabei Hand in Hand gearbeitet, sind durch die Stellungen gegangen, haben in den Unterständen mit Offizieren und Mannschaften zusammengesessen. Wenn dann Zeit und Gelegenheit zum Gottesdienst war, standen sie vor ihren Feldgemeinden als gute Bekannte. Allmählich wurden in den Ortsunterkünften und Lagern regelmäßige Sonntagsgottesdienste daraus — auch ein Stück Heimat. In entscheidungsernsten Tagen, während vorne schon andere Kameraden im Kampf standen, haben sich die Kompanien noch einmal zu stiller Glaubensfeier versammelt, ehe sie ins Gefecht gingen. Eine kurze, ermutigende Ansprache, ein Gebetsausblick zu Gott für Leben und Sterben, und dann — vorwärts! Diese schlichten Gottesdienste vor dem Kampf und nachher gehören wohl für viele zu den erhebendsten Feldzugserlebnissen. Dann wieder kamen in den Stellungen tief im Unterstand diejenigen, die gerade abkommen konnten, zu einer kurzen Andacht zusammen. Oder wir hatten im Argonnerwald einen Altar errichtet. Die Bäume deckten uns gegen Sicht. Wir brauchten uns weder durch die feindlichen Flieger noch durch die gegenseitige Begrüßung [S. 131] der Artillerien irremachen zu lassen. Einige Male aber ist uns doch das feindliche Feuer dabei hart auf den Leib gerückt. Dann wieder war die Feldgemeinde am Abhang eines Waldlagers aufgebaut. Das Dach eines Unterstandes diente als Kanzel. Weit ins Tal hinunter klangen die Lieder, und die Waldvöglein stimmten mit ein. Hin und wieder hat auch eine der zerschossenen Kirchen uns noch einmal, wenn ruhigere Zeiten kamen, zum Gottesdienst vereint; die Wände geschwärzt von Granaten, die im Innern der Kirche geplatzt waren. Die Fensterscheiben zersprungen. Es war, als ob die Heiligen in ihren Wandnischen noch ganz erschrockene Gesichter machten. Der Wind pfiff durch die Fenster und ließ die Sträuße getrockneter Blumen gespensterhaft rascheln. Solch ein Ort hatte manchmal etwas Unheimliches. Aber auch das gehört zum Bemeistern der fremden Welt, daß man über das Unheimliche Herr wird.

Die Kirche, von der ich zuletzt sprach, liegt im Argonnengebiet. Von ihrem Turm ist einmal Siegeskunde zu den französischen Stellungen hinübergeschallt. Es war an dem Tage, an dem die Nachricht kam, daß Brest-Litowsk gefallen war. Ich stand mit einigen Bekannten in der Nähe der Artilleriestellungen. Gerade hatten wir die frohe Nachricht gehört. Da klingt, vom Winde hell an unser Ohr getragen, ein selten gehörter Ton zu uns herüber. Glockengeläut im feindlichen Land! Es wurde uns feierlich zu Mute, und keiner sprach ein Wort, um auch nicht einen Klang zu verlieren. Bis in unsere Schützenlinien hat man dieses Siegesgeläut gehört, und die gegenüber liegenden Franzosen mögen erstaunt die Ohren gespitzt haben. Auch von der französischen Seite haben wir manchmal Glockenklang vernommen: die Glocke von Massiges. Aber nicht vom Kirchturm, sondern — aus dem Schützengraben. Sie wurde für Alarmsignale benutzt.


Personen: Veidt, Karl
Orte: Argonnen · Bois de Ville · Brest-Litowsk · Chapelle-Ferme · Kanonenberg · Massiges · Melzicourt
Sachbegriffe: Alliierte · Angriffe · Erinnerungen · Flieger · Gefecht · Gottesdienste · Granaten · Heimat · Kampf · Kirche · Patriotismus · Fotografien
Empfohlene Zitierweise: „Karl Veidt, Als Divisionspfarrer im Argonnerwald, 1914-1917, Abschnitt 6: Gottesdienste“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/35-6> (aufgerufen am 28.04.2024)