Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Karl Veidt, Als Divisionspfarrer im Argonnerwald, 1914-1917

Abschnitt 2: Einnahme und Erschließung des Geländes

[124-125]
„Kulturzeitalter der Menschheit“

Aber mehr noch: Wir haben in diesem Lande noch einmal die Kulturzeitalter der Menschheit durchmessen. So wie ihr in euren ersten Schützengräben und in den Maulwurfslöchern, die wir damals „Unterstände“ nannten, gelegen habt, so mögen einst die Urmenschen sich mit den einfachsten Hilfsmitteln gegen Wind und Wetter gedeckt haben. Eine kleine Vertiefung, einige Pflöcke, ein Feuerloch, eine Zeltbahn darüber, etwas Erde darauf, — so war‘s zuerst, und es gab Optimisten, die einen solchen „Unterstand“ splittersicher nannten. So lag einst der Nomade im schnell aufgebauten Lager. Nur mit dem Unterschied, daß er am nächsten Tage weiterzog. Unsere Leute blieben drin liegen. Aber es ging schnell in die Erde hinein. Das feindliche Feuer beschleunigte die Arbeit. Geschnittenes Bauholz kam heran. Stämme wurden herbeigeschleppt. Ganze Wälder, Berge von Wellblech, Eisenschienen und Beton verschwanden in den Stellungen. Die französischen Einwohner, deren Vorfahren ja in unserer Gegend in wilden Zeiten auch schon einmal in Erdhöhlen hausten, werden staunen, wenn sie wieder kommen. Jetzt haben wir längst solide unterirdische Wohnungen. Die Höhlenbewohner haben sich zu Kulturmenschen emporgearbeitet. In den Wäldern und an den Hängen entstanden Blockhauskolonien mit einer Fülle von Stilformen. Manchem mag das einst ein Ideal gewesen sein, als er in der Knabenzeit mit klopfendem Herzen von den Trappern im wilden Westen las, wie sie in Blockhäusern wohnten und ihren Skalp gegen die Indianer verteidigten. Die meisten von uns haben ja wohl solch eine Lederstrumpfzeit durchgemacht. Jetzt war der Traum der Knabenjahre Wirklichkeit geworden — Wirklichkeit, so sehr viel prosaischer als das Ideal. Aber diese Blockhäuser bedeuteten, daß wir uns wiederum zu einer höheren Kulturstufe durchgerungen hatten. Und — bei allem todesgrimmigen Ernst — welch köstliche Stunden haben wir doch auch in diesen Blockhütten verlebt! Man hatte sich tagüber durch Regen und Sturm gearbeitet, war im knietiefen Schlamm gewatet und kam dann „nach Hause“. Welch urkräftiges Behagen rieselte durch die Adern, wenn man nun die durchfrorenen Glieder dem knisternden, knatternden Feuer [S. 125] entgegenstrecken konnte! Nie haben wir ja so, wie im Felde, das echt männliche Glücksgefühl erlebt, das aus dem Bewußtsein überwundener Schwierigkeiten und Gefahren beruht, dem Bewußtsein: Im Kampf mit Naturgewalt und Feindesgewalt sind wir Sieger geblieben; hier ist „unser“ Land; hier ist „unsere Welt“, die wir uns gebaut und erkämpft haben.


Personen: Veidt, Karl
Sachbegriffe: Blockhäuser · Granaten · Indianer · Männlichkeit · Schützengräben · Witterung
Empfohlene Zitierweise: „Karl Veidt, Als Divisionspfarrer im Argonnerwald, 1914-1917, Abschnitt 2: Einnahme und Erschließung des Geländes“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/35-2> (aufgerufen am 28.04.2024)