Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Karl Veidt, Als Divisionspfarrer im Argonnerwald, 1914-1917

Abschnitt 4: Infrastrukturelle Erschließung und Anpassungsleistungen

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Wieder eine Stufe aufwärts in der Kulturgeschichte der [S. 126] Menschheit, wie wir sie in zusammengedrängter Form erlebt haben, führte die Erbauung von Stein- und Betonhäusern. Und eines kam zum andern. Kleine Gartenanlagen entstanden. Im Bois de Ville tauchten sie zuerst auf. Selbst im vordersten Graben war hier und da ein wenig Grün hingezaubert und trug einen Hauch von Poesie in die strenge Sachlichkeit der Kampfstellung. Der praktische Zweck trat hinzu. Hinter der Front legte man Kompanie-und Bataillonsgärten an. Sie brachten wohltuende Abwechslung in die Einförmigkeit der Feldküche. Am besten waren die Truppenteile dran, die sich schon früh auf ein langes Bleiben in der Gegend eingerichtet hatten. Sie haben schon im Sommer 1915 die Früchte ihrer Arbeit und Voraussicht genießen können. Die andern Truppenteile folgten. Im Jahre 1916 hatten fast alle Truppenteile ihre eigenen Gärten, viele ihre Hühner- und Kaninchenställe. Selbst als wie zwischendurch auf einem Salat und Gemüse aus Baux, Kartoffeln aus Brech und „selbstgelegte“ Eier gegessen. Das war ein ganz besonderes Fest.

Immer reicher entfaltete sich die kulturelle Entwicklung. Neue Straßen wurden gebaut. Sägewerke, Stellmachereien und Tischlereien mit Dampfbetrieb und Elektrizität entstanden. Bis in die vordersten Stellungen wurden Brunnen gebohrt und Wasserleitungen gelegt. Deutsche Tüchtigkeit und Erfindungskraft fand auch da Mittel und Wege, wo zuerst die Schwierigkeiten unüberwindlich schienen. In manchen Teilen der Stellung sind unsere Leute im ersten Winter in Wasser und Schlamm fast ersoffen. Ein Knüppeldamm nach dem andern wurde gebaut; einer nach dem andern versank. Die Unterstände wurden leergeschöpft; am nächsten Tag standen sie wieder voll Wasser. Man legte sich abends einigermaßen trocken nieder; am andern Morgen konnte man im Unterstand Schwimmübungen machen. Was die Unseren in diesem Winter, manche Truppenteile ohne Ablösung, in monatelangem Aushalten geleistet haben, kann nur der recht verstehen, der es gesehen hat. Dazwischen sind dann noch schneidige Handstreiche ausgeführt, Angriffe gemacht und feindliche Angriffe [S. 127] abgeschlagen worden. Aber manchmal stand wochenlang nichts anderes im Heeresbericht, als etwa „An der Westfront nichts Neues“ oder „Gewohnte Artillerietätigkeit“. Von den Strapazen der Winterfeldzüge, von dem täglichen Kampf gegen Sturm und Regen, Wasser und Schlamm konnte nichts im Heeresbericht stehen. Und doch war er nicht leichter, manchmal vielleicht schwerer, als der Kampf der Geschütze, Gewehre und Handgranaten. Aber auch in diesem Kampf gegen die Tücken der Witterung und des Bodens sind wir Sieger geblieben. Es gelang, die Gräben und Unterstände durch große, kunstvolle Entwässerungsanlagen trokken zu bekommen, trotzdem die Unterstände mit dem Wachsen der feindlichen Kaliber immer tiefer gelegt wurden. Bis in die vorderste Linie wurde durch Anlage von Badeanstalten für das Reinlichkeitsbedürfnis gesorgt. Dann kam die Zeit, daß auch in den Unterständen der vorderen Stellung das elektrische Licht brannte. Bei seinem Schein wurden die Briefe in die Heimat geschrieben und die Bücher der Feldbüchereien gelesen. Aus kleinen Anfängen waren sie auf Tausende von Bänden gewachsen. In allen Ortsunterkünften und Lagern hatten wir Aufenthaltsräume oder Soldatenheime. Da konnte man im behaglich durchwärmten Raum lesen und schreiben. Dann und wann wurden in diesen Heimen auch Vortrags- oder Unterhaltungsabende, bei denen unsere Regimentskapellen mitwirkten, veranstaltet und fanden großen Anklang. In den Waldlagern hielt man Kompaniefeiern, in denen Vaterlands- und Heimatsgedanken neben derbem Humor gleichmäßig zur Geltung kamen. Sogar die Freilichtbühne fehlte nicht. Auch die äußere Verbindung mit der Heimat wurde immer besser. Bis an die Front fügte sich das Netz der Feldbahnen zusammen. Da taten die Lokomotiven „Goliath“ und „Herkules“, „Max“ und „Moritz“, „Puppchen“ und „Lottchen“ und wie sie sonst alle hießen, Tag und Nacht unverdrossen ihre Pflicht. Schließlich konnte man, wenn man durfte, aus den Stellungen bis nach Frankfurt oder Berlin fahren. Ist‘s nicht ein weiter Weg vom Zeitalter der Höhlenbewohner bis zum Zeitalter des Dampfes und der Elektrizität, den wir in diesen beiden Jahren zurückgelegt [S. 128] haben? So sind wir mit dem Lande eins geworden, vom Urmenschen bis zum Kulturmenschen.


Personen: Veidt, Karl
Orte: Baux · Berlin · Bois de Ville · Brech · Frankfurt
Sachbegriffe: Bibliotheken · Elektrizität · Entwässerungsanlagen · Feldküchen · Gemüsebau · Handgranaten · Heimat · Hygiene · Höhlen · Infrastruktur · Kapellen · Lokomotiven · Männlichkeit · Patriotismus · Schwimmbad · Soldatenheime · Stellungen · Straßenbau · Urmensch · Vaterland · Witterung · Fotografien
Empfohlene Zitierweise: „Karl Veidt, Als Divisionspfarrer im Argonnerwald, 1914-1917, Abschnitt 4: Infrastrukturelle Erschließung und Anpassungsleistungen“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/35-4> (aufgerufen am 28.04.2024)