Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Contemporary History in Hessen - Data · Facts · Backgrounds

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SA

  1. Übersicht
  2. Die Wurzeln der NSDAP-Sturmabteilung in Frankfurt am Main
  3. Prekäre Anfänge im Untergrund: die hessische SA zur Zeit des Parteiverbots
  4. Wiederzulassung und Neuorganisation seit 1925
  5. Erste große Wahlerfolge der NSDAP und forcierter Aufbau von SA-Verbänden in der Provinz
  6. Gründung der Preußischen Hilfspolizei
  7. Verfolgung jüdischer Mitbürger nach der „Machtergreifung“
  8. Die SA in der „Reichskristallnacht“ im November 1938
  9. Die SA nach 1934: als Hilfstruppe der Wehrmacht

1. Übersicht

Die Sturmabteilung der NSDAP (SA) war eine paramilitärische Kampftruppe, deren Hauptaufgabe darin bestand, Veranstaltungen der Partei vor den Angriffen politischer Gegner zu schützen oder deren Kundgebungen zu stören. Die Bereitschaft, dabei auch rücksichtslos von Gewalt Gebrauch zu machen, wurde zu einem Markenzeichen der SA.

Als die NSDAP damit begann, größere Veranstaltungen für ein breiteres Publikum durchzuführen, sah man sich gezwungen, einen parteieigenen Ordnungsdienst zu schaffen. Dies geschah nicht allein aufgrund von Störungen und handgreiflichen Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern während, sondern diente nicht zuletzt dem Zweck, ihren Rednern „in den lärmenden Biersälen der bayerischen Landeshauptstadt […] überhaupt Gehör verschaffen zu können.“1

Das Auftreten der Schutztruppe lässt sich (analog zum Entstehungsort und frühen „Einzugsgebiet“ der Partei) am weitesten sich im Freistaat Bayern, nämlich bis Anfang 1920 zurückverfolgen. Im Gebiet des heutigen Hessen entstanden erste „Sturmabteilungen“ der NSDAP ab 1922 aus wehrsportlichen Formationen heraus. Die im Volksstaat und in den preußischen Teilen Hessens bestehenden SA-Verbände wurzelten von Ort zu Ort ganz unterschiedlich in verschiedensten Formationen, Vereinen und Zusammenschlüssen. In aller Regel handelte es sich dabei um sogen. Wehrverbände, paramilitärische Organisationen, die während der Weimarer Republik im gesamten politischen Spektrum entstanden. Solche Wehrvereinigungen existierten unter der Bezeichnung Freikorps als Sammelbecken für Frontsoldaten, die nach Kriegsende und der Novemberrevolution von 1918/19 im Zivilleben einer parlamentarisch-demokratischen geführten Republik keine Perspektive für sich erblickten, oder – als Reaktion auf den Spartakusaufstand in Berlin im Januar 1919 – als Einwohnerwehren zur Aufrechterhaltung der Wehrfähigkeit (nach aussen) und zur Unterdrückung linksrevolutionärer Bestrebungen (im inneren) gegründet wurden.

2. Die Wurzeln der NSDAP-Sturmabteilung in Frankfurt am Main

Der Turnverein „Friedrich Ludwig Jahn 1919“ und Wehrsportformationen des „Jungdeutsche Ordens“ – Keimzellen der Frankfurter SA

In Frankfurt am Main wurde der 1919 gegründete deutsch-völkische Turnverein „Friedrich Ludwig Jahn 1919“ unter der Führung von Kapitänleutnant a. D. Karl Tillessen, zur einer Keimzelle der örtlichen nationalsozialistischen Sturmabteilung und – in enger Verbindung zu den Aktivitäten anderer Wehrsportvereinigungen und der Gründung der ersten NSDAP-Ortsgruppe im Sommer 1922 - zum Ausgangspunkt einer der ersten eigenständigen SA-Verbände in Hessen.

Tillessen, anfangs der 20er Jahre leitendes Mitglied der nationalistischen Terrorgruppe „Organisation Consul“ (O.C.) und an der Ermordung von Reichsaußenminister Walther Rathenau2 sowie einem Blausäureattentat auf den sozialdemokratischen Oberbürgermeister der Stadt Kassel, Philipp Scheidemann beteiligt, übte als Vorstand des von späteren Veteranen der „Kampfzeit“ der „Bewegung“ durchsetzten Vereins entscheidenden Einfluss auf dessen Umwandlung zu einer paramilitärischen Saalschutztruppe aus. Als Vorbild zur Umstrukturierung der sich vorher recht harmlos als Heimat wanderfroher „Männer- und Knabenabteilungen“ präsentierenden völkischen Institution diente der in München im August 1921 erfolgte Zusammenschluss von Freikorps, Brigaden und anderer Wehrverbände zur „Turn- und Sportabteilung“ der NSDAP. Mit tatkräftiger Unterstützung durch den Sicherheitspolizisten Kurt Münch (nach der „Machtergreifung“ als leitender Funktionär in verschiedenen NS-Sportorganisationen tätig) wurden regelmäßig Geländemärsche durchgeführt und gemeinsame Kriegsspiele mit dem Turnverein Jahn aus Darmstadt abgehalten. Der Turnverein „Friedrich Ludwig Jahn 1919“ zählte unter Tillessens Leitung Anfang 1922 etwa 60 Mitglieder, von denen die meisten gleichzeitig noch in anderen Wehrverbänden organisiert waren.3 Gemeinsam mit dem nationalrevolutionären Publizisten Hartmut Plaas (1899-1944), der etwa zur gleichen Zeit in Frankfurt die Geschäftsführung der seit Juli 1921 erscheinenden und in finanziellen Nöten steckenden Völkischen Rundschau übernahm, und ebenso in die Machenschaften der „Organisation Consul“ (OC) verstrickt war, ergriff Tillessen auch die Initiative zur Gründung der ersten NSDAP-Ortsgruppe in Frankfurt.

Mitglied im Turnverein „Friedrich Ludwig Jahn 1919“ war u. a. auch der erste in der NS-Parteigeschichtsschreibung für den Gau Hessen-Nassau4 genannte SA-Führer Paul Umhofer. Umhofers Ernennung zum SA-Verbandsoberhaupt und die feierliche Weihe der ersten nationalsozialistischen Sturmfahne Frankfurts stellten 1923 den nach offizieller Linie eigentlichen Gründungsvorgang einer eigenständigen SA-Organisation in Frankfurt dar.5

„Jungdo“

Eine weitere Vorgängerorganisation der SA in Frankfurt am Main waren wehrsportliche Formationen des im März 1920 in Kassel gegründeten Jungdeutschen Ordens (kurz: Jungdo). Ähnlich wie im Turnverein „Friedrich Ludwig Jahn 1919“ vermischten sich auch hier Sport und paramilitärische Übungen. Einzelne Mitglieder des nach dem Vorbild des mittelalterlichen Deutschen Ordens organisierten, in Bruder- und Schwesternschaften gegliederten Verbandes waren in enger Verbindung zur Marine-Brigade Ehrhardt und der O.C. in die Ermordung des ehemaligen Reichsfinanzministers Matthias Erzberger (1875-1921) verstrickt und beteiligten sich nach dem im Sommer 1922 erlassenen Verbot der O.C. am Aufbau der lokalen Strukturen der Nachfolgeorganisation Bund Wiking.

Die maßgebliche Persönlichkeit hinter diesen Aktivitäten war der ehemalige Schriftführer des Jungdo, Friedrich Wilhelm Heinz (1899-1968), der nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft (Oktober 1921) sein Engagement für die Ehrhardtsche Geheimorganisation noch verstärkte und unmittelbar an den Vorbereitungen der Attentate auf Philipp Scheidemann und Walther Rathenau beteiligt war. Heinz spielte bei der Vernetzung der „Organisation Consul“ und ihres Nachfolgeverbandes Bund Wiking, der Ortsgruppe des rechtsradikalen „Verbandes nationalgesinnter Soldaten“6 (deren Vorsitz er übernahm), Angehörigen der Reichswehr und den an der Gründung der Frankfurter Ortsgruppe der NSDAP beteiligten Personen eine entscheidende Rolle. Unter der Bezeichnung SA traten dann ab 1922 aus diesen Gruppierungen hervorgegangenen Verbände als „Saalschutz“ bei Parteiveranstaltungen der NSDAP im Frankfurt erstmals in Erscheinung. Gemeinsam mit Karl Tillessen kann Heinz als die eigentliche „Vaterfigur“ beim Aufbau der SA in Hessen angesehen werden.

3. Prekäre Anfänge im Untergrund: die hessische SA zur Zeit des Parteiverbots

Das Verbot der NSDAP am 15. November 1922 in Preußen und am 28. April 1923 im Volksstaat Hessen bedeutete keineswegs ein Ende der Aktivitäten der Partei und ihrer Unterorganisationen, denen es in den folgenden Monaten gelang, unter verschiedensten Bezeichnungen zahlreiche neue Ortsvereine und Stützpunkte bis weit ins hessische Hinterland hinein zu errichten. In Frankfurt am Main existierten als Turn- und Wandervereine getarnte SA-Formationen unter fantasievollen Namen wie „Möwe“ oder „Freiwild“. Gleichzeitig war aber an einen planmäßigen weiteren Auf- und Ausbau der illegalen Parteiorganisation und verdeckt agierender SA-Verbände im Jahr 1923 nicht zu denken. Vielmehr bedeuteten die mittlerweile bankrottähnlichen Zustände der hessischen SA und der endgültige Bruch mit dem als Nachfolger der Organisation Consul“ Anfang Mai 1923 gegründeten Wiking-Bund, der anfangs aufs engste mit dem Turnverein „Friedrich Ludwig Jahn 1919“ und den im Gebiet des heutigen Hessen gegründeten Sturmabteilungen der NSDAP verzahnt war, das bis zum Münchener Novemberputsch andauernde, kurzzeitige Aus für alle größeren Aktionen. Angesichts des Verbots und der geringen Mitgliederstärke zeigten sich die hessischen Ortsgruppen der SA 1923 und 1924 öffentlich nur als Teilnehmer bei Veranstaltungen befreundeter Verbände.7 Der Frankfurter SA-Bezirksführer und Oberbefehlshaber Adolf Freund übermittelte im April 1923 ein Hilfegesuch an das SA-Oberkommando, in welchem er sich über mangelnde Informationen aus München beklagte und Instruktionen erbat, „um das Gefühl des in der ‚Lufthängens’ los zu werden.“ Eine finanzielle Unterstützung durch das Oberkommando sei „ebenfalls dringend notwendig, da wir aller Mittel bar sind“. Die erzwungene Tatenlosigkeit versuchte Freund den Münchener Genossen gegenüber noch als Tugend zu verkaufen: „Hervorzuheben ist, daß die Öffentlichkeit in Frankfurt nicht im geringsten an das Vorhandensein einer SA denkt“.8

4. Wiederzulassung und Neuorganisation seit 1925

Geringe Mitgliederzahl und Abgrenzung gegenüber den übrigen Wehrverbänden

Die Zahl aktiver Mitglieder der SA nahm sich nach der Wiederzulassung und Neuorganisation der NSDAP ab 1925 zunächst vielerorts bescheiden aus: die Wiesbadener Sturmabteilung zählte im Sommer 1926 nicht mehr als zehn oder zwölf aktive Mitglieder. Bis Anfang 1927 erhöhte sich ihre Zahl gerade einmal auf 20. Ähnlich sah es im Grunde im gesamten Partei-Gau Hessen-Nassau-Süd9 aus: selbst in der Metropole Frankfurt standen bis 1929 nur wenige Sturmmänner zur Verfügung.10

Von schlagkräftigen Sturmabteilungen konnte also auch einige Zeit nach der Neugründung der NSDAP im Jahr 1925 nicht die Rede sein. Eindrücklich dokumentierte z. B. die Präsenz der hessischen SA auf dem „Reichsparteitag“ der NSDAP am 3. und 4. Juli 1926 in Weimar ihre zahlenmäßige Schwäche: aus dem Kasseler Gau waren ganze 40 Mann entsendet worden, der Gau Hessen-Nassau-Süd/Hessen-Darmstadt nahm mit immerhin 120 Mann an der Veranstaltung teil. Einem verstärkten personellen Zulauf stand v. a. die institutionelle Zersplitterung innerhalb der Szene der deutsch-völkischer Wehrvereinigungen im Wege. Während sich in den Jahren 1925 bis 1928 in einem Drittel aller hessischen Kreisstädte Stahlhelm- und Wiking-Gruppen nachweisen lassen, blieben NSDAP und SA in erster Linie auf die Großstädte beschränkt. Eine agitatorische und organisatorische Zusammenarbeit fand so gut wie nicht statt, im Gegenteil: bereits kurz nach der Parteigründung im Frühjahr 1925 waren deutliche Grenzen zu den Wehrverbänden gezogen worden. Mehrfachmitgliedschaften (wie sie Anfang der 20er Jahre beim Aufbau der Partei-(Vorläufer-) Organisationen in Frankfurt a. M. gang und gäbe waren) wurden auf dem Nürnberger Parteitag 1927 verboten.11

5. Erste große Wahlerfolge der NSDAP und forcierter Aufbau von SA-Verbänden in der Provinz

Aufbau der SA in Oberhessen und im Vogelsberg

Die Aufstellung örtlicher SA-Verbände stand natürlich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem organisatorischen Aufbau der NSDAP, der jenseits städtischer Zentren, beispielsweise in Oberhessen, erst im Anschluss an die ersten größeren Wahlerfolge voranschritt. Bis 1928/29 blieb die Partei eine – von wenigen Ausnahmen abgesehen – relativ bedeutungslose Splittergruppe. Entsprechend formierte sich auch die SA in der Provinz selbst in den ländlichen Hochburgen rechtsgerichteter Parteien nicht vor Ende der 20er Jahre. Lokale Stürme entstanden in Abhängigkeit zu den aufkeimenden NSDAP-Ortsvereinen vor 1925 ausschließlich in den oberhessischen Mittelstädten wie Bad Nauheim, Friedberg und Gießen.

Im Vogelsberg erfolgte der Aufbau der SA z. B. im Kreis Lauterbach erst ab Anfang 1930, wo der aus dem osthessischen Schlitz stammende Gerhard Münch sowohl die dortige Ortsgruppe der NSDAP als auch mehrere SA-Stürme gründete, und am 1. November 1932 in seiner Heimatstadt die den lokalen Stürmen übergeordnete SA-Standarte 254 ins Leben rief, die nach der „Machtübertragung“ im Frühjahr 1933 nach Lauterbach übersiedelte.12

Erste regionale Wahlerfolge der NSDAP in Hessen bei der Reichstagswahl am 20. Mai 1928 wurden massiv durch die Propaganda der Ortsgruppen der Partei und durch Aktivitäten der SA unterstützt. Von einem flächendeckend durchschlagenden Erfolg der Nationalsozialisten konnte allerdings zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede sein: man erzielte zwar im Wahlkreis Hessen-Nassau aufgrund der Unterstützung in strukturschwachen, dörflich-ländlichen Gebieten ein gegenüber dem Reichsdurchschnitt überdurchschnittliches Ergebnis, faktisch jedoch blieb die NSDAP, gemessen am Zuspruch der Wählerinnen und Wähler, eine kleinere Splitterpartei.

Obwohl die NSDAP mit 2,6 % auf Reichsebene eine kleine Splitterpartei war, konnte sie insbesondere in ländlichen Gebieten Norddeutschlands von der Krise in der Landwirtschaft profitieren. In einzelnen Gemeinden in Holstein etwa kam die Partei auf 36,8 %.

6. Gründung der Preußischen Hilfspolizei

Am 22. Februar 1933 wurde die SA durch die vom kommissarischen preußischen Innenminister Hermann Göring Gründung der preußischen Hilfspolizei gezielt in den staatlichen Machtapparat eingebunden. Damit wurde die SA unmittelbar nach der „Machtergreifung“ zu einer quasi staatlich anerkannten Terrortruppe, die hemmungslos am nationalsozialistischen Gewaltmonopol partizipierte. Die aus Angehörigen der SA, aber auch der SS und des Stahlhelm aufgestellte, reichsweit über etwa 50.000 Mann verfügende Hilfspolizei betätigte sich unmittelbar nach dem 30. Januar 1933 in der rücksichtslosen und brutalen Bekämpfung der politischen Gegner des Nationalsozialismus. Im März 1933 standen in Hessen 4.594 SA- und SS-Hilfspolizisten 2.158 regulären Polizeibeamten gegenüber.13

7. Verfolgung jüdischer Mitbürger nach der „Machtergreifung“

Ein besonders unrühmliches Kapitel in der Geschichte der SA ist ihre massive Verstrickung in die Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung, die als eine Form gezielter „Menschenjagd“ besonders von der SA bereits wenige Tage nach der „Machtergreifung“ am 30. Januar praktiziert wurde, und sich nach dem Reichstagsbrand in der Nacht vom 27. zum 28. Februar sowie in Folge der Wahlen zum achten Deutschen Reichstag am 5. März 1933 verstärkt fortsetzte. Insbesondere Juden, die sich bis 1933 aktiv in bürgerlichen oder linken Parteien betätigt hatten, wurden zu den frühesten Opfern eines rigorosen Terrors, der auch in Hessen nicht vor menschenverachtenden Exzessen halt machte. So nutzten SA-Angehörige in zahlreichen hessischen Gemeinden die Ablösung der demokratischen Regierung unter Bernhard Adelung (SPD) durch den Nationalsozialisten Ferdinand Friedrich Karl Werner am 13. März 1933, um mit jüdischen Mitbürgern „abzurechnen“. Erpressungen, öffentliche Demütigungen und gewaltsame Übergriffe, die von der SA als lokale „Einzelaktionen“ durchgeführt wurden, wurden dabei von den NS-Behörden und –Gerichten nicht selten als „Initiativen“ der Partei-„Basis“ aufgefasst, die man durch die Einführung neuer diskriminierender Gesetze im Nachhinein gesetzlich legitimierte.14

8. Die SA in der „Reichskristallnacht“ im November 1938

Auch wenn die SA nach der Ermordung Ernst Röhms und zahlreicher weiterer Funktionäre der NSDAP-„Sturmabteilung“ auf einen Schlag ihre innerparteiliche Machtstellung verlor und vollständig in den Parteiapparat reintegriert wurde („gezähmte Parteiarmee“15), blieb sie als schnelle und brutale, faktisch außerhalb der geltenden Rechtsordnung agierende Eingreif- und Durchführungstruppe bestehen, wobei sich die Anzahl ihrer Mitglieder nach der „Machtergreifung“ bis Mitte 1934 reichsweit auf vier Millionen erhöhte – und damit über der Mitgliederzahl der Partei selbst lag.

Die latente Gewaltbereitschaft und erschreckende Brutalität der Parteitruppe, die beim Einsatz während der „Kristallnacht“ erneut offen zu Tage trat, war in den vorangegangenen Jahren seit dem Röhm-Putsch durch ihre weitgehende politische Marginalisierung und den damit verbundenen Ansehensverlust bei der Bevölkerung verstärkt worden. Vielfach waren SA-Männer – wie noch in der „Kampfzeit“ – aufgrund des schlechten Images der Organisation und dementsprechenden Ressentiments der Arbeitgeber von Arbeitslosigkeit betroffen. Die ungelösten Image- und Beschäftigungsprobleme sorgten spätestens nach der Entmachtung am 30. Juni 1934 für eine dauerhaft desparate Stimmung, die ihre Entsprechung in der Vehemenz fand, mit der sich das Pogrom vom 9./10. November 1938 Bahn schlug.

Der Auftakt zu den Pogromen in Hessen erfolgte bereits am Abend des 7. Novembers in Kassel, sowie in den nordhessischen Städten und Gemeinden Bebra, Sontra, Rotenburg a. d. Fulda und Alheim-Baumbach.

Die Synagogen der jüdischen Gemeinden waren die ersten Ziele hessischer SA-Trupps. Bereits in den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 bewegten sich SA-Kommandos ab etwa 4:00 Uhr, um Gotteshäuser und andere jüdische Einrichtungen, zunächst v. a. in den größeren Städten, in Brand zu stecken.

Eine definitive Angabe zur Anzahl der angezündeten und demolierten Synagogen im Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen wurde erstmals Ende der 1980er-Jahre veröffentlicht. Die Architektin Thea Altaras (1924–2004) bezifferte in ihrem 1987 entstandenen Buch „Die Synagogen in Hessen – Was geschah seit 1945?“ die Zahl der 1933 noch tatsächlich benutzten Synagogen auf 363, von denen während des Novemberpogroms 145 zerstört wurden.16

9. Die SA nach 1934: als Hilfstruppe der Wehrmacht

Der Pogrom der „Reichskristallnacht“ am 10. November 1938 war die letzte große „wilde“ Aktion der SA, ihre Funktion als parteieigenes Terrorinstrument wurde anschließend ausnahmslos von der weitaus besser „steuerbaren“, weil „disziplinierter“ und kalkulierbarer auftretenden SS ausgeübt.17 Vor Kriegsausbruch fungierte die SA vornehmlich als Hilfsorgan der Wehrmacht, indem sie die vor- und nachmilitärische Ausbildung der Wehrpflichtigen übernahm, denen es als „sittliche Pflicht“ auferlegt wurde, zur Vorbereitung des Wehrdienstes das SA-Wehrabzeichen zu erwerben. Bei Kriegsausbruch standen rund 80 Prozent der SA-Angehörigen im Dienst der Wehrmacht. Ältere Jahrgänge erfüllten Aufgaben als Ausbilder oder wurden bei Sicherungs- und Wachaufgaben zur Entlastung der Polizei eingesetzt. Während der zweiten Kriegshälfte erlangten SA-Verbände nochmals wachsende Bedeutung bei Bergungs- und Aufräumarbeiten nach Luftangriffen.

Kai Umbach


  1. Wagner, Christoph: Entwicklung, Herrschaft und Untergang der nationalsozialistischen Bewegung in Passau 1920 bis 1945 (Geschichtswissenschaft; 9), Berlin 2007 (zugl.: Passau, Univ., Diss., 2006), S. 25.
  2. Karl Tillessen trug in entscheidender Weise Verantwortung für die Ermordung des DDP-Politikers und amtierenden Reichsaußenministers Walther Rathenau am 24. Juni 1922. Der ehemalige U-Boot-Kommandant und Kapp-Putsch-Teilnehmer erteilte den Auftrag zur Ermordung Rathenaus und besorgte die Gelder für die Durchführung des Attentats. Karl Tillessens Bruder Heinrich ermordete am 26. August 1921 den von 1919 bis 1920 amtierenden Reichsfinanzministers Matthias Erzberger.
  3. Tillessen schätzte die Stärke der in Frankfurt am Main 1922 aktiven Wehrverbände insgesamt auf etwa 180 bis 200 Mann, vgl. Schön, Eberhart: Die Entstehung des Nationalsozialismus in Hessen (Mannheimer Sozialwissenschaftliche Studien; Bd. 7), Meisenheim am Glan 1972, S. 27 f.
  4. Vgl. Gimbel, Adalbert (Hrsg.) / Hepp, Karl (Bearb.): So kämpften wir!: Schilderungen aus der Kampfzeit der NSDAP. im Gau Hessen-Nassau, Frankfurt am Main 1941.
  5. Vgl. Website „Frankfurt am Main 1933-1945“ des Instituts für Stadtgeschichte der Stadt Frankfurt am Main: Frühe SA-Organisation in Frankfurt bis 1925 (Stand: 29.06.2012).
  6. Satzungsziel: „Sammlung aller national-deutsch empfindenden Elemente deutsch-rassiger Abstammung zur Abwehr der internationalen Bestrebungen, die den Bestand des Deutschen Reiches gefährden könnten.“ Zit. n. Hambrock, Matthias: Die Etablierung der Außenseiter: Der Verband nationaldeutscher Juden 1921-1935, Köln [u. a.] 2003 (zugl.: Münster (Westf.), Univ., Diss., 2001), S. 74.
  7. Vgl. Schön, Eberhart: Die Entstehung des Nationalsozialismus in Hessen (Mannheimer sozialwissenschaftliche Studien; Bd. 7), Meisenheim am Glan 1972 (zugl.: Mannheim, Univ., Diss., 1970), S. 47.
  8. Schreiben von Adolf Freund an das SA-Oberkommando München vom 30. April 1923, zit. n. Schön, Eberhart: Die Entstehung des Nationalsozialismus in Hessen (Mannheimer sozialwissenschaftliche Studien; Bd. 7), Meisenheim am Glan 1972 (zugl.: Mannheim, Univ., Diss., 1970), S. 44.
  9. Als Gaue wurden 33 Verwaltungseinheiten bezeichnet, die von der NSDAP nach ihrer Neugründung 1925 und im Zusammenhang mit der forcierten Ausdehnung über die Grenzen Bayerns hinaus eingerichtet wurden. Sie Gaue umfassten als territoriale Bezirksgliederungen der Parteiorganisation das gesamte Reichsgebiet und entsprachen vor 1933 den damaligen Reichstagswahlkreisen. Der ursprüngliche Gau Hessen (geographisch weitgehend identisch mit dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen) wurde zum 1. März 1927 neu geordnet, und zwar in die Gaue Hessen, Hessen-Nassau-Nord und Hessen-Nassau-Süd. 1933 erfolgte dann die Zusammenlegung der Gaue Hessen-Darmstadt und Hessen-Nassau-Süd zum Gau Hessen-Nassau. Der vormalige Gau Hessen-Nassau-Nord wurde in Gau Kurhessen umbenannt.
  10. Vgl. Zibell, Stephanie: Jakob Sprenger (1884-1945): NS-Gauleiter und Reichsstatthalter in Hessen (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte; 121), Darmstadt 1999 (zugl.: Mainz, Univ., Diss., 1999), S. 172.
  11. Schön, Eberhart: Die Entstehung des Nationalsozialismus in Hessen (Mannheimer sozialwissenschaftliche Studien; Bd. 7), Meisenheim am Glan 1972 (zugl.: Mannheim, Univ., Diss., 1970), S. 117.
  12. Vgl. Eigner, Carsten: Die 1000jährige Geschichte und Vergangenheit des Dorfes Bermuthshain im hohen Vogelsberg: Bermuthshain im Nationalsozialismus (Stand: 02.07.2012).
  13. Vgl. Arenz-Morch, Angelika: Die Anfänge der nationalsozialistischen Herrschaft in Rheinhessen, in: NS-Herrschaft, Verfolgung und Widerstand. Mainz 2004 (= Mainzer Geschichtsblätter, 13, S. 7-23) [Online-Ressource mit anderer Seitenzählung: 1-12, hier: S. 6.]
  14. Vgl. Kropat, Wolf-Arno: Kristallnacht in Hessen: der Judenpogrom vom November 1938. Eine Dokumentation (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen; 10), Wiesbaden, 1988, S. 15-17.
  15. Vgl. Longerich, Peter: Die braunen Bataillone: Geschichte der SA, München 1989, S. 220-238.
  16. Dabei ist selbstverständlich zu berücksichtigen, dass ein Teil der 1933 noch als Synagogen genutzten Gebäude 1938 bereits ihre Funktion als Gotteshäuser wieder verloren haben könnte. Vgl. Altaras, Thea: Synagogen in Hessen - was geschah seit 1945?: eine Dokumentation und Analyse aus allen 221 hessischen Orten, deren Synagogenbauten die Pogromnacht 1938 und den 2. Weltkrieg überstanden; 223 architektonische Beschreibungen und Bauhistorien (Serie Die blauen Bücher) Königstein im Taunus 1988, S. 6, S. 26 ff.
  17. Longerich, Peter: Die braunen Bataillone: Geschichte der SA, München 1989, S. 237.
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  1. Gründung der NSDAP in Kassel, Februar 1922
  2. Blausäure-Attentat auf den Kasseler Oberbürgermeister Philipp Scheidemann, 4. Juni 1922
  3. Bannerweihe des Jungdeutschen Ordens in Marburg unter Beteiligung der SA, 23. Juli 1923
  4. Erster Hinweis auf hessische SS im „Völkischen Beobachter“, 19. Juni 1926
  5. Erscheinen des liberalen „Hessischen Tageblatts“ in Marburg, 1926
  6. Erster Aufmarsch der SA in Limburg, 21. Oktober 1928
  7. Uraufführung des Georg Kaiser-Schauspiels „Die Lederköpfe“ in Frankfurt, 24. November 1928
  8. Verhängung eines Uniformverbots in Preußen, 11. Juni 1930
  9. NSDAP provoziert die sogenannte Blutnacht von Kassel, 18. Juni 1930
  10. Höhepunkt des Reichstagswahlkampfes in Hessen, 3. August 1930
  11. Saalschlacht zwischen NSDAP und Linken in Harleshausen, 7. August 1930
  12. Verbot der uniformierten Aufmärsche in Hessen, 15. August 1930
  13. Marburger NS-Studenten zetteln Saalschlacht in Frankenberg an, 26. Oktober 1930
  14. Schwere Saal- und Straßenschlacht in Grebenstein, 21. Januar 1931
  15. Saalschlacht zwischen SA und politischen Gegnern in Ockershausen, 23. Februar 1931
  16. Propagandistischer „Deutscher Tag“ der NSDAP in Darmstadt, 28. Juni 1931
  17. Pompöse Beerdigung des NSDAP-Gauleiters Peter Gemeinder in Darmstadt, Anfang September 1931
  18. Beisetzung des NSDAP-Gauleiters Peter Gemeinder auf dem Darmstädter Waldfriedhof, 2. September 1931
  19. Gewalttaten der Motorisierten Schutz-Abteilung der NSDAP im Raum Darmstadt, 1931/32
  20. Allgemeines Verbot der SA und SS durch Notverordnung des Reichspräsidenten, 13. April 1932
  21. Reichsweite Aufhebung des SA- und Uniformverbots durch den Reichspräsidenten, 16. Juni 1932
  22. Scheitern der Bestrebungen für ein linkes Wahlbündnis in Kassel, Juni-Juli 1932
  23. Schwere Körperverletzung durch SA-Trupp in Dauborn bei Limburg, 1. August 1932
  24. Massenkundgebung der NSDAP in Marburg, 11. Januar 1933
  25. Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, 30. Januar 1933
  26. Große vaterländische Kundgebung in Eschwege, 1. Februar 1933
  27. Aufruf der Eisernen Front in Kassel zur Besonnenheit, 4. Februar 1933
  28. Wahlkampfauftakt der NSDAP in Darmstadt, 6. Februar 1933
  29. Der Nationalsozialist Roland Freisler spricht zum Wahlkampf in Marburg, 1. März 1933
  30. Reichstagswahlen in Marburg ohne Zwischenfälle, 5. März 1933
  31. Nationalsozialist Heinrich Müller übernimmt Polizeigewalt im Volksstaat Hessen, 6. März 1933
  32. Hissen der Hakenkreuzfahne auf dem Kasseler Rathaus, 6. März 1933
  33. SA und Stahlhelm hissen die Hakenkreuzfahne auf dem Limburger Rathaus, 7. März 1933
  34. Hakenkreuzfahnen über Marburger Amtsgebäuden, 8. März 1933
  35. Zerstrümmung der Fensterscheiben jüdischer Geschäfte in Kassel, 12. März 1933
  36. Besetzung der Redaktion des „Hessischen Tageblatts“ in Marburg durch die SA, 13. März 1933
  37. Besetzung des Kasseler Rathauses und Absetzung des Oberbürgermeisters durch die SA, 24. März 1933
  38. Erste Terrormaßnahmen in Marburg gegen jüdische Geschäftsleute, 28. März 1933
  39. Boykott jüdischer Geschäfte in Eschwege, April 1933
  40. Boykott jüdischer Geschäfte, Anwälte und Ärzte, 1. April 1933
  41. Boykott jüdischer Geschäfte auch in Frankenberg, 1. April 1933
  42. Großer Aufmarsch der Marburger NS-Verbände zum Maifeiertag, 1. Mai 1933
  43. Verhaftung zahlreicher Gewerkschafter bei Besetzung der Gewerkschaftshäuser, 2. Mai 1933
  44. Einrichtung des Konzentrationslagers Breitenau in dem ehemaligen Benediktiner-Kloster des Ortes Guxhagen, 15. Juni 1933
  45. Bekenntnis zum Nationalsozialismus auf dem Brüdertag der Diakonie in Treysa, 15. Juni 1933
  46. Gestapo-Stelle in Kassel berichtet über parteipolitische Lage, 28. Juli 1933
  47. Diskriminierende Behandlung von Frauen in Frankenberg, 16. August 1933
  48. Ehrung altgedienter Parteimitglieder und Aufmarsch der SA-Standarte 173 zum zehnjährigen Bestehen der NSDAP-Ortsgruppe in Melsungen, 20. August 1933
  49. Abfahrt der Marburger SA zum Nürnberger Parteitag wird zum Ereignis stilisiert, 2. September 1933
  50. Rückkehr der Marburger SA vom Reichsparteitag, 4. September 1933