Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 9: Abendmahl und Taufe in der Lißberger Kirche

[30-32] Nach einer Weile treten die Männer vor den Altar. Ein verstärktes Schluchzen eilt hart durch den Raum. Das sind die Frauen. Die Männer aber reißen sich krampfhaft zusammen. Sie halten die Hände gefaltet und die Häupter gesenkt. Einen Augenblick lang herrscht reiche, volle Stille. Dann hebt der Pfarrer seine Arme hoch und, ihm selber in dieser Stunde so inhaltsreich wie nie zuvor, tauen die Worte des Segens Arons in die heißen Herzen um ihn Herum:
„Der Herr segne euch und behüte euch!
„Der Herr lasse leuchten sein Angesicht über euch und sei euch gnädig!
„Der Herr hebe sein Angesicht auf euch und gebe euch Frieden!"
Frieden!? Gewiß, nur im Glauben war dieses Paradoxon zu ertragen, daß wir Friede wünschten und freundliches Leuchten in die Herzen derer, die doch Krieg und Kriegesbrand machen sollten. Aber der Glaube war groß, und so ist manchem doch der Friede geworden.
Das Abendmahl, das die fünfundzwanzig Männer [S. 31] — nach dem nachherigen Geständnis des Lehrers — alles gegenseitig vergebend, alles für einander hoffend, alle Gnade Gottes selber erwartend, hierauf angesichts der im Gesang fürbittenden Gemeinde miteinander gefeiert haben, gehört zu dem Feierlichsten, was wir je zusammen erlebt. So habe ich die Spendeformel nie gesprochen, so sehr erquickt die Nachtmahlsgäste nie gefunden. Noch am selben Abend sagt mir einer der Ausziehenden ganz aus eigenem Triebe, er habe Angst und Sorge gehabt, nun aber sei alles anders: er sei so frei geworden durch dieses Abendmahl, so innerlich frei. Sicherlich ist er's geworden nur durch den Glauben. Aber doch ist dieser Glaube in der Hülle des sinnenfälligen Symbols erfaßt worden. —
Auf das Sakrament des Altars folgt am anderen Tage — einem Sonntage — dasjenige der Taufe. In gewöhnlichen Zeiten taufen wir hier unfeierlich und ohne Gemeinde in den Häusern. Die Gewalt der Zeit drängte aber auch die Taufe wieder in die Kirche. Ich mußte einen ganz besonderen Taufgottesdienst veranstalten. Fast die ganze Gemeinde war darin anwesend. Man merkte es allen an, daß sie, ehe die Väter in den Krieg, vielleicht in den Tod zogen, dem lieben Gott nichts schuldig bleiben wollten und nach der Handlung eine Sorge weniger spürten: wenigstens ihr Kind ist zuvor noch versichert.
Unterdessen ist der Glaube wieder stiller geworden. [S. 32] Aber sein Strom ist nicht versandet. Manche sind ja da, die werden die religiöse Aufwallung der ersten Tage wenigstens für ihre Person nicht mehr begreifen. Aber im allgemeinen ist doch der Glaube geblieben. Ich meine den wahrhaft protestantischen Glauben des Vertrauens auf den Vater und seine letzten Zwecke. Aber davon will ich jetzt still sein; in solchem Glauben ist zu viel Geheimnis. Es ist mir genug, zu wissen, daß auch jetzt noch, wo uns doch das Ungeheuere schon zur tötenden Gewohnheit geworden ist, dieser Glaube in den Häusern hin und her sein freundliches Lichtchen leuchten läßt.


Persons: Herpel, Otto
Places: Lißberg
Keywords: Pfarrer · Gottesdienste · Abendmahl · Taufen · Taufgottesdienste
Recommended Citation: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 9: Abendmahl und Taufe in der Lißberger Kirche“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/89-9> (aufgerufen am 20.04.2024)