Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916

Abschnitt 1: Die Nachricht vom Attentat in Sarajewo

[12-13] Das Omen.

Die Revolverschüsse des Meuchelmörders von Serajewo hallten auch durch unser Tal. Weniger laut zwar und gedämpfter als in der uns nächstbenachbarten Großstadt; aber auf den Flügeln einer geschäftigen Frankfurter Presse flog ihr Echo doch noch zeitig genug in das Friedensnest unseres Gebirges.

Auch unsere Leute horchten auf. Allerdings, zunächst verhielten sie sich der Tat gegenüber mehr gleichgültig. Die allgemein menschlichen Empfindungen traten bei ihnen lange in den Vordergrund. Ihr ausgesprochenes Familiengefühl ließ sie vor allem mit den Hinterbliebenen Kindern Mitleid haben. Die Mutter bedauerte man. Den Erzherzog kannte man nicht.

Aber nun begann das Großstadttum, unter dessen Einfluß doch schließlich auch das entfernteste und abgelegenste Dörflein des Vogelsberges steht, seine Wirkung zu üben. Ich selber habe niemals vorher und niemals mehr als an diesem Punkte so stark und so unmittelbar die Macht empfunden, die unsere Großstädte durch ihre dienstbaren Geister, die „Generalanzeiger" — mögen sie nun im einzelnen heißen wie sie wollen — auch auf das einfältigste Land auszuüben vermögen.

Ihre von vornherein vielfach sensationell [S. 13] angestrichene Erfassung der Lage teilte sich bald dem Landvolke mit. Das rein menschliche Interesse trat zurück. Das politische wurde erregt. Die Männer fingen allmählich an, ausführlicher miteinander über Tatsachen und Möglichkeiten zu reden. Und schon machte sich auch das schwere Wort „Krieg" auf. Erst schob es sich, nur widerwillig ertragen, in die Gedanken. Dann schlich es heimlich weiter in die Rede. Bald würgte es den Frauen in den Kehlen. Schließlich stellte es sich brutal unverhüllt vor die nüchternen und klaren Sinne der Männer.

Und das Omen erwachte.

In Stadt und Land, aber besonders auf dem Lande — des großen Geschehens Prophet und Vorläufer ist das Omen. Nicht nur das große Unglück, auch die große Freude wirft diesen Schatten voraus. Tod und Geburt, Hochzeit und Scheiden, Finden und Verlieren, Gelingen und Irren — alles hat seine Omen. Gewiß, nicht jeder entdeckt und erfährt sie. Wer aber einen „beachtlichen Sinn" und ein „nachdenkliches Genie" hat, d. h. wer sich ein bißchen aufs Schlaubergern und ein wenig mißtrauisch auf die Geheimnissucherei versteht, der geht nicht durch sein Leben, ohne es im Omen vorerlebt zu haben. Ganz gewiß erst recht nicht, wenn der Krieg zu erwachen droht.


Persons: Herpel, Otto
Places: Lißberg · Sarajevo · Frankfurt · Vogelsberg
Keywords: Attentat von Sarajevo · Zeitungen · Kriegsangst
Recommended Citation: „Otto Herpel, Kriegszeit in einem hessischen Dorf in der Beschreibung des Pfarrers von Lißberg, 1914-1916, Abschnitt 1: Die Nachricht vom Attentat in Sarajewo“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/89-1> (aufgerufen am 26.04.2024)