Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessian World War I Primary Sources

↑ Otto Brühl, Das Marburger Landsturm-Bataillon auf dem Weg nach Flandern, 1914

Abschnitt 6: Erste Diensttage des Landsturms in Brügge


Die ersten Tage in Brügge.

In Brügge angekommen, entleerte sich schnell der Zug und bald stand das Bataillon aus dem ziemlich dunklen Bahnhofsplatz. Die erste Kompagnie sollte in Brügge selbst bleiben, während die anderen drei Kompagnien nach Süden, nach Thourong1 zu, abmarschierten. Die letzteren sind dann die Nacht in Lophem2 geblieben, während die erste Kompagnie ihren Unterkunftsraum, eine Musikschule, bezog. Vom Bahnhofsplatz marschierten wir dröhnenden Schrittes über den Marktplatz unserer Behausung zu, durch die von vielen Einwohnern besetzten Straßen. Ein eigentümliches Gefühl überschleicht einem, wenn man so zum erstenmale durch eine feindliche Stadt marschiert und zu gerne möchte man die Gedanken der uns anblickenden Menschen erraten. Die Säle unseres Unterkunftsraumes waren mit Stroh belegt, auf das wir uns auch bald ausstreckten, uns mit den Mänteln zudeckend. Es lag sich zwar etwas hart auf diesem Strohlager, aber man war doch froh, nach längerer Zeit wieder einmal zu liegen und die Beine ausstrecken zu können. Am folgenden Morgen war weiter kein Dienst und nachmittags wurden die vorgeschriebenen Wachen bezogen. Ich marschierte mit meinem Zuge nach Barsenaere3, wo derselbe eine Vorpostenstellung einnehmen sollte. Daselbst angekommen holten wir uns den Bürgermeister hierbei, um uns von diesem Quartiere für die dort bleibenden Soldaten anweisen zu lassen. Dieses wurde in einer sehr schönen Villa gefunden und als dasselbe gerade wohnlich eingerichtet werden sollte, kam unser Hauptmann an und zog diesen Posten wieder ein, jedoch wurde derselbe am nächsten Tage doch ausgestellt, sodaß ich mich zum zweitenmale dorthin ans den Weg machen mußte. Ich hatte diesmal nur die zum Posten nötigen Leute mit, sodaß ich allein zurückmarschieren hätte müssen, wenn mir nicht ein gütiges Geschick ein Auto mit einem Militärpfarrer gesandt hätte. Dieser Herr nahm mich denn auch sehr gerne mit, und da er direkt von Ostende4 kam, konnte er mir allerhand Neuigkeiten über den Stand der Dinge dort erzählen.

Inzwischen waren die Chargen vom Feldwebel aufwärts in Hotels einquartiert worden und so bezog ich mit einem anderen Vizefeldwebel ein Zimmer im Hotel Terminus am Bahnhof. Die belgischen Hotelverhältnisse an dieser Stelle sind aber recht mäßig, besonders war der Ausgang miserabel, sodaß ich mich bei meiner Körperfülle die Treppe schräg hinaufschrabben mußte. Gegen Abend hatten einige findige Leute [Sp.] ganz in der Nähe ein von dem Besitzer verlassenes sehr schönes Hotel (Grand Hotel) ausfindig gemacht und auch zum Teil davon Besitz ergriffen. Da auch inzwischen ein sehr guter Weinkeller in diesem Hotel entdeckt wurde, so zogen wir es auch vor, uns dort einzuquartieren. Bald hatten wir auch zwei schöne, ineinandergehende Zimmer gefunden und für uns requiriert und auch mit Hilfe unserer Putzer wohnlich eingerichtet. An diesem Abend kamen mir zum erstenmale seit acht Tagen wieder in ein Bett und schliefen, durch eine Anzahl Flaschen Rotwein vorher gestärkt, vorzüglich. Der Besitzer dieses Hotels, welcher belgischer Reserveoffizier sein soll, hatte dieses verlassen und hatten die Engländer, die vor uns dort gewesen waren, in den Privatzimmern fürchterlich gehaust. Sämtliche Schubläden und Schränke waren aufgerissen und der Inhalt derselben, Frauen- und Kinderkleider, Briefe und alle sonstigen Sachen lagen zerstreut und zertreten am Boden. Wir schafften zunächst einmal den Schmutz und die Scherben aus dem Hause, um uns auch einige wohnliche Eßzimmer zu schaffen. Inzwischen hatte sich der gute Ruf unseres Hotels soweit verbreitet, daß sich der ganze Stab bei uns einquartierte. Plötzlich erschien nun heute morgen der Besitzer des Hotels aus der Bildfläche, um sich den Zustand seines Besitztums einmal anzusehen. Derselbe wird nun, wenn von höherer Stelle nichts anderes befohlen wird, wieder bei uns einziehen und den Hotelbetrieb allmählich wieder ausnehmen. Unsere Hauptbeschäftigung hier besteht nun im Wache stehen, da wir die Sicherung eines Teiles der Stadt und auch der nächstliegenden Eisenbahnlinien nach Thourong und Ostende vorzunehmen haben, der geschäftliche, wenigstens der Handelsverkehr ist hier wieder vollständig ausgenommen, die elektrische Bahn fährt durch die Stadt, jedoch zeigt die Menge des hier durchkommenden Militärs, die Hunderte der hier durchkommenden Militärautos und vor allen Dingen die vielen Verwundeten, welche sich von den umliegenden Schlachtfeldern hier sammeln, daß immer noch scharf gekämpft wird. Die Verhältnisse für unser Bataillon liegen daher immer noch sehr günstig, die Verpflegung, welche die Stadt Brügge bezahlen muß, ist gut, wenn auch eine Anzahl Leute erkältet sind, was wir aber in der Hauptsache ans die hier schon zur Geltung kommende Seeluft zurückführen.

So leben wir nun verhältnismäßig noch sehr gut hier in unserem Standquartier gegenüber unseren Kameraden im Felde und wollen uns auch weiter so gut wie möglich durchschlagen.


  1. Tourhout, etwa 20 km südlich Brügge.
  2. Loppem, Gemeinde südlich Brügge.
  3. Varsenare, Ortschaft etwa 5km südwestlich von Brügge.
  4. Osteende, belgische Küstenstadt 30 km westlich Brügge.

Persons: Brühl, Otto
Places: Brügge · Tourhout · Loppem · Varsenare · Oesteende
Keywords: Landsturm-Bataillon Marburg · Landsturm · Wachdienste · Militärpfarrer · Feldwebel · Hotels
Recommended Citation: „Otto Brühl, Das Marburger Landsturm-Bataillon auf dem Weg nach Flandern, 1914, Abschnitt 6: Erste Diensttage des Landsturms in Brügge“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/en/purl/resolve/subject/qhg/id/7-6> (aufgerufen am 19.04.2024)